Ich bin jetzt da.

Ich bin jetzt da.
Wednesday 12 November 2008

Liebe Alice Miller

Ich hab mich zwischen Spiegeln hin und her bewegt und hab mich niemals selbst dabei gesehen. Ich rannte hin und her und spielte Vater Mutter Kind. Ich stellte Fallen auf. Ich stellte Spiegel für die Fallen auf. Ich spielte fangen, festhalten, schlagen und schimpfen noch und noch. Ich spielte Vater. Ich spielte meine Mutter nach. Ich spielte bockig, trotzig stur. Ich spielte Vater muss so sein. Ich schaute weg und ließ mich ganz allein. Ich ließ das Kind, das ahnte ich, jetzt ganz allein. Ich war jetzt ganz allein. Ich spielte tote Frau. Verstecken, noch und noch. Ich schrie und zeterte. Das Unglück war jetzt Spiegelspiel. Das Unglück und der Tod. Ich spielte ewig traurig sein und Mutter vor der Tür. Ich hatte zwei Gesichter nun, nein mehrere. Auch manchmal ein ganz eigenes, das hab ich nie gezeigt. Nicht einmal mir. Ich musste bockig sein und rücksichtslos, gehetzt und ungeduldig, fremd. Ich musste mich bestrafen, selbst. Und voller Selbsthass sein. Ich ging nur zwischen Spiegeln. Ich war doch nicht mal hier. Ich reagierte panisch schnell. Im Zorn und voller Wut. Ich ging mit meinen Waffen um. Dem Vorwurf, der Beschuldigung, dann richterlicher Kälte. Noch einen Moment des quälenden Innehaltens, dann stand das Opfer fest. Ich schimpfte es ein letztes Mal. Dann ging ich weg. Ich war der Richter stets. Dann auch das Opferlamm. Das kleine Mutterherz, das wollte es doch so. Ich war das Unschuldslamm. Ich ging die Spiegel ab. Ich baute Mauern voller Spiegel auf. Ich wurde selbst zum Spiegel. Ich war nichts anderes. Ein Spiegel ohne Augen. Ich hatte kein Gefühl für mich und niemand sonst. Nur Angst. Ich rannte nur, ich war nicht selbst dabei.

Dann hab ich Sie gelesen. Dann ging das Leiden los. Je weiter ich mit ihren Worten an der Hand dann ging, desto einsamer und trauriger und schmerzhafter wurde mir. Ich ging doch weiter. Dann kam die Grausamkeit, das alles was mir meine Eltern angetan, in mir zum Vorschein jetzt. In mir da lag die Grausamkeit und jener Schmerz den ich so gut, mein kleines Kind, damals verstecken musste. Ich ging mit Ihren Worten weiter. Das nicht verzeihen müssen gab mir Kraft, es schlug mir Spiegel weg, es ließ mich atmen, es zeigte mir die Anderen. Es zeigte mich am Grunde ihrer Spiegel. Die größten ihrer Spiegel. Die Spiegel meiner Eltern. Ich ging mit Ihren Worten weiter. Ich ging hilflos, wehrlos, einsam, jenen Weg zu allen Toten, die ich in meiner Kindheit sehen musste. Ich fühlte meine Einsamkeit, ganz ohne einen Rat und ohne einen Schulterschlag und ohne nur ein Wort des Trostes. Ich fühlte mich den Toten sehr verwandt und seltsam gleich, alleingelassen. Die Spiegel waren hier allein, das machte mir die größte Angst. Wir waren scheinbar alle Spiegelwesen, mit unsren toten Augen. Das war die Welt, das dachte ich. Ich sehe es. Ich sehe es. Ich sah die Spiegel immer noch und wusste nichts von ihrer Existenz. Mein Mitleid floss in Strömen. Ich ging mit Ihren Worten weiter. Ich sah die Eltern wie sie waren. Ich sah die Sehnsucht dann in mir. Ich sah die Schutzbedürftigkeit. Ich sah das Elend hier. Ich sah mein Leben. Das was ich hatte. Ich ging mit Bildern weiter. Ich ging mit Ihren Worten im Gepäck. Ich las die Sätze wieder. Ein zweites Mal, dann kamen sie mir plötzlich tiefer vor. Noch eine Schicht. Noch mehr vom Unglück unsrer Kinder. Noch mehr geraubtes unterdrücktes Kinderleben. Und keine Hilfe weit und breit. Ich ging noch zwischen Spiegeln hin und her. Ich hatte einen Zeugen. Ich sah ihn stehen, knien, zu mir gebückt, das lächelnde Gesicht, das freundlich schaut, das mir die Schmerzen endlich zugesteht. Das mich bezeugt in meinem Schmerz. Ich seh den Zeugen stehn. Er hilft mir immer noch. Der Anteilnahme für mich hat. Und plötzlich fand ich andere Spiegel, die ich vergessen hatte. Die Kindergärtnerin, die mich getröstet hat. Die Lehrerin. Ich war so froh. Da waren andere. Dann zuckte ich. Mein Körper rebellierte. Die Kindergärtnerin, auch sie war eine Erzieherin, auch sie verlieh mir Sterne. Die goldenen für bestes Benehmen, die silbernen für gutes Benehmen, und schwarze Sterne auch, für schlechtes Tun und böses Sein. Ich war nicht ganz allein, doch sah ich jetzt, allein Ihr Titel sagt es doch: Am Anfang war Erziehung. Sie sagen es. Die Spiegel waren wieder da. Ich ging mit Ihren Worten weiter. Zur Hoffnungslosigkeit, dort wo die Bilder sich verändern. Dort wo es stiller und auch geduldig schweigen möglich ist. Ich ging mit Ihren Worten an den Ohrenspitzen, mit Sicherheit dorthin, wo niemand gern gewesen ist und jeder gleichermaßen von uns missbrauchten Kindern immer war. Ich ging zu mir zurück. Ich glaube, dass mir die Hoffnungslosigkeit dabei geholfen hat. Dass nichts je besser wird, das einst schlecht für mich gewesen ist. Dass Schmerzen schmerzend sind. Dass nichts sich ändern wird. Doch stellte ich auch hier noch Fallen auf. Ich redete mit meinen Träumen am nächsten Tag, als wären sie die Spiegel. Als wären meine Träume Spiegelbilder. Als gäbe es nur immer wieder Bilder. Ich sah mich noch immer nicht. Ich erkannte mich in keinem Sein.

Dann hatte ich den Traum. Ich lag in einem grauen Schlaf. In einer grauen Welt. Ich fuhr nach Hause. In meine Heimatstadt. Die Welt war grau. Ich sah das Bündel, das da auf dem Rücksitz lag. Es atmete sehr leise. Die Beine waren nicht dabei, auch keine Arme. Der Körper schief. Schief ,dachte ich, und schwarze Augen. Dann sagte ich: Trotzdem weiß der Körper, was gut für ihn ist. Der Torso lag in grauen Tüchern eingewickelt. Der Körper war allein.

Ihr habt mich immer nur benutzt als Spiegelkind für eure Spiegelspiele. Ich war euch stets egal. Das haben sie aus mir gemacht. Das haben meine Eltern aus mir gemacht, mit ihrem Tun. Sie haben mich zu dem gemacht, sie haben stets mich so behandelt. Ein Kind nur schlecht und ohne Beine, behindert, dumm, und ohne Kopf, ein Bündel nur, und ohne Leben, ein graues Ding. So haben sie mich angezogen. Das waren ihre Lehren. Ihr Tun an mir. Ich ging den halben Tag mit meinen Bildern weiter. Dann sah ich plötzlich, was ich sah. Ich sah nicht meine Bilder, ich sah auch nicht, das was sie mir ein Leben lang angetan hatten. Ich sah mich selbst. Das war doch ich. Das bin ich doch. Das Bündel dort in einer grauen Welt. Das bin ich und nichts anderes. So ist es gut. Dann bin ich das. Hier war nicht Zorn, hier war nicht Hass. Hier waren meine Eltern nicht. Hier war nichts außer mir. Und dann geschah die Zuneigung. Ich war das. Und niemand sonst war hier für mich. Doch ich. Ich bleib jetzt hier. Ich bin jetzt da.

Das war es, was ich Ihnen sagen wollte und dass ich Ihnen nochmals danken wollte. Ich sehe meinen Zeugen, das was er für mich getan hat wieder klarer. Ich sehe für mich, was er getan hat. Er hat mir etwas gegeben, das ich von keinem anderen in meiner Kindheit geschenkt bekommen habe. Er hat sich mir zugewandt und zugeneigt. Er hat sich meinem Schmerz zugewandt. Kinder brauchen keine Spiegel. Wir brauchen Zuwendung. Was sie Alice Miller für mich getan haben. Sie haben sich mit Ihren Worten mir zugewandt.

Mit herzlichen Grüßen

H.R.

AM: Ja, Sie haben recht. Worte können uns an der Hand nehmen und uns begleiten, wenn sie uns erlauben, endlich unsere wahre Geschichte zu sehen. Sie helfen uns dann, aus dem Gefängnis der Verwirrung und der Lüge herauszukommen. Es ist niemals leicht, das gestohlene eigene Leben zurückzuerobern, aber es ist MÖGLICH, wie Ihr Brief das bezeugt. Sich nicht im Labirynth der Spiegel zu verlieren, setzt sehr viel Entschlossenheit voraus, aber der Einsatz lohnt sich, weil der Gewinn trotz Angst und Schmerzen ungewöhnlich groß sein kann. Es ist erschütternd zu lesen, welchen mühsamen Weg Sie zurückgelegt haben. Doch diese Wege bleiben uns selten erspart, wenn wir wirklich wissen wollen, was uns geschah, und uns nicht blenden lassen wollen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Bericht.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet