Ich weiss ja schon alles

Ich weiss ja schon alles
Wednesday 26 December 2007

Liebe Alice Miller,

auf der Suche nach Heilung las ich eben mal wieder in Evas Erwachen die Geschichte von Isabelle, deren seelisches Leiden sich in einem jahrelangen körperlichen Märtyrium, unter anderem in schlimmen Darmkoliken einen Weg bahnte.

Ich selbst bin 50 Jahre alt, habe zwei langjährige Therapien hinter mir, die mir letztendlich nicht geholfen haben, meine Gefühle aus ihrem Gefängnis zu befreien. Erst seit Weihnachten letzten Jahres, mit Unterstützung durch Ihre Bücher, bin ich meiner Kindheit und Jugend und somit mir selbst näher gekommen. Ich finde aber leider zur Zeit keine Therapeutin, die mir auf meinem Weg noch weiter helfen kann.

Seit letzter Woche, seit dem Geburtstag meines Vaters, zu dem ich ihm zum ersten Mal keine Karte geschrieben und auch nicht angerufen habe, leide ich mal wieder an einer Bronchitis. Mitte der Woche mit schlimmer Atemnot. Seit meiner Kindheit huste ich im Winter, oft ganz schlimm. Genau wie mein Vater. Ich will das nicht mehr. Liebe Alice Miller, was sagt mir das? Nur Genetik? Das glaube ich nicht.

Ich habe mich bisher immer nur mit meiner Mutter und meiner Großmutter, die mich 10 Jahre lang „erzogen“ hat, auseinandergesetzt. Und das war schon schlimm genug. Meine Großmutter war stark depressiv bis todessüchtig, meine Mutter leidet unter einer Psychose und nimmt seit Jahren starke Psychopharmaka. Beide haben mir großen Schaden zugefügt, mir meine Kindheit und Jugend geraubt. Meine Mutter hat mich oft fürchterlich geschlagen. Trotzdem wollte ich ihr immer helfen.Auch als ich schon lange 300 Kilometer von ihr entfernt gelebt habe. Bis vor ein paar Jahren. Ich spüre, ich brauche die Kraft, die ich noch habe für mich und für die Menschen und Dinge, die mir wichtig sind.

Und jetzt drängt sich da mein Vater vor. Kommt aus dem Schatten. Und ich habe Angst, was das noch verborgen liegt. Er hat mir früher nur Schuldgefühle gemacht. Meine Gefühle gegenüber ihm sind ambivalent. Er ist mir immer fremd geblieben. Er nervt mich. Ich mag ihn auch nicht so richtig. Er belastet mich. Belastet er auch meine Bronchien?

Liebe Alice Miller, können Sie damit was anfangen? Können Sie mir eine Spur aufzeigen?

Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten und ein gesundes, glückliches Neues Jahr!

Freundliche Grüße, C.

AM: Sie schreiben: „Und jetzt drängt sich da mein Vater vor. Kommt aus dem Schatten. Und ich habe Angst, was das noch verborgen liegt. Er hat mir früher nur Schuldgefühle gemacht. Meine Gefühle gegenüber ihm sind ambivalent. Er ist mir immer fremd geblieben. Er nervt mich. Ich mag ihn auch nicht so richtig. Er belastet mich. Belastet er auch meine Bronchien?“ Und dann bitten Sie mich, Ihnen eine Spur aufzuzeigen. Aber Sie sind doch schon auf der richtigen Spur, nur weigern Sie sich, dies wahrzunehmen. Das machen aber Ihre Bronchien. Sie schreiben, dass Ihre Gefühle Ihrem Vater gegenüber ambivalent seien, aber was Sie erzählen, zeigt doch, dass Sie Ihren Vater fürchten müssen. Da ist offenbar nichts mehr von der Liebe zu retten, zu der Sie sich verpflichtet fühlen. Wenn Sie sich von diesem Zwang befreien, werden Sie nicht mehr husten, Sie brauchen dann nicht Ihre Bronchien zu bemühen, weil Sie bereit sind, selber Ihre Wahrheit zu ertragen, die Wahrheit, dass Ihr Vater offenbar Ihre Liebe nicht verdient und dass Sie diesen Zwang zum Selbstbetrug aufgeben dürfen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet