Lähmende Schuldgefühle

Lähmende Schuldgefühle
Friday 10 July 2009

Liebe Alice Miller,

nun habe ich endlich den Mut gefunden, meine Analyse abzubrechen. Ich schrieb Ihnen schon mal im März (Zeitverlust in irreführenden “Therapien”), der Leserbrief wurde sofort von Ihnen beantwortet und veröffentlicht, ich danke Ihnen sehr dafür!

Ich fand den Mut, doch leider fühle ich mich sehr alleine. Alleine mit Depressionen, Hoffnungslosigkeit, Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, Verunsicherung… und der Wut meiner Therapeutin, die die Wahrheit nicht ertragen kann. Ich habe zu ihr gesagt, dass es mir nicht besser geht. Sie sagte, ich hätte jetzt ALLES kaputt gemacht mit meiner negativen Sichtweise. Sie wünscht mir, dass ich dies in meiner neuen Therapie, ablegen könne. Es wäre besser, wenn wir uns jetzt trennen. Keine guten Wünsche für die Zukunft. Nichts! Sie war so gekränkt und zeigte deutlich ihre Enttäuschung.

Der Hammer kam dann als sie mich fragte, woran es liegt. Ich antwortete ihr, dass ich denke, dass es an meiner Kindheit liegt. Daraufhin meinte sie, dass ich nun erwachsen bin und die Kindheit vorbei sei. Ich könne jetzt meine negative Sichtweise ändern.

Sie hat meine Kindheit total verharmlost, es war nicht nur die negative Sichtweise meiner Mutter, die mich heute alles negativ sehen lässt, sie hat an mir ihren ganzen Hass abgeladen. Sowohl mit Worten als auch mit Schlägen. Mein Vater war nie richtig präsent, er hat sich immer zurückgezogen.

Immer ging es nur um meine negative Sichtweise und dass ich mich besser abgrenzen, meiner Mutter und auch gegen anderen Personen gegenüber, lerne.

Ich schrieb ihr einen Brief, dass sie meine Mutter bemitleidet hat, immer neutral geblieben ist, anstatt mir beizustehen und sich darüber zu empören, wie meine Mutter mich behandelt hat, um mir zu ermöglichen, meine verdrängten Gefühle zu spüren. Zusätzlich habe ich ihr Ihren Artikel “Im Gefängnis der Schuldgefühle” mitgeschickt, weil ich finde, dass der Text in Bezug auf die Therapeuten genau zutrifft. Bis jetzt kam keine Antwort und ich denke auch nicht, dass sie darauf antworten wird. Sie wollte nur die Schuld für den Mißerfolg auf mich abwälzen!

Ja, ein wichtiges Schlüsselerlebnis war, dass sie meine Mutter bemitleidet hat. Meine Therapeutin sagte einmal zum Schluss einer Traumdeutung: “Die Arme!” (meine Mutter), weil sie bis heute ihr Leben nicht genießen kann. Ich war schockiert, dass sie sich so deutlich geäußert hat, mir hat sie dadurch die Augen geöffnet und deshalb konnte ich meine Entscheidung gegen diese Therapie wieder ein Stückchen festigen.

Liebe Grüße

M.S.

AM: Sie haben Ihre Gefühle ernst genommen und die richtige Entscheidung getroffen. Nun haben Sie Schuldgefühle und fürchten die Bestrafung. Das ist begreiflich, weil sich das in der Kindheit immer so abgespielt hat: Sie durften nicht nach Ihren Gefühlen handeln. Aber jetzt dürfen Sie, und niemand wird Sie dafür bestrafen. Sie können froh sein, dass Sie sich von dieser fragwürdigen, verwirrenden “Therapie” befreit haben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet