Das Wunder

Das Wunder
Saturday 17 June 2006

Liebe Alice Miller,

im Januar 2005 ist mir Ihr Buch „Die Revolte des Körpers“ in die Hände gefallen und ich habe es sofort gekauft, weil ich schon beim Lesen des Klappentextes fühlte, dass Ihr Wissen mich auf meinem langen Weg des Missbrauchs durch meine Eltern, einem angeheirateten Cousin, einem Nachbarn, meinem Ex-Mann und durch meinen ersten Therapeuten und Therapeutin (Ehepaar, er ist Neurologe, Psychologe und Psychotherapeut, sie Psychotherapeutin) begleiten und bestärken wird. Es hat mich besonders betroffen, da ich schon als Mädchen magersüchtig war, was zu der damaligen Zeit in dieser Form noch nicht bekannt war, und als ich dann meine erste Therapie begann, dauerte es nicht lange und ich habe wieder aufgehört zu essen, was mich fast umgebracht hätte.

In diesem Forum sehe ich eine Möglichkeit, dass viel mehr Menschen erfahren, wie wichtig es ist, seine eigene Geschichte mit all den schrecklichen Wahrheiten zu begreifen und zu erkennen, wer dafür verantwortlich ist, nämlich die Eltern und ihre Vollstrecker.

Ich will an dieser Stelle über mein „Leben“, sofern ich dieses überhaupt als Leben bezeichnen kann, berichten, und sie können diesen Bericht vollständig oder teilweise, auch mit meinem vollen Namen veröffentlichen, weil ich mich nicht mehr verstecken will und das Jahrzehntelange Schweigen und die Heuchelei aufhören muß.

Ich bin im Februar 1956 als viertes Kind von insgesamt fünf Kindern geboren. Meine Geschwister sind 08.52, 11.53, 01.55 und 01.59 geboren, wobei zwischen mir und meiner jüngsten Schwester noch ein Kind geboren wurde, welches als Fehlgeburt bezeichnet wird, meine älteste Schwester mir jedoch erzählt hat , dass dieses Kind im fünften oder sechsten Monat geboren wurde und wo meine Mutter angeblich nachgeholfen haben soll, dieses Kind nicht zur Welt zu bringen. Meine Mutter mußte heiraten, weil meine Schwester unterwegs war, sie war gerade 20 Jahre alt und mein Vater 25 Jahre.

Wir sind in sehr ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und angeblich waren wir alle Wunschkinder, was ich jedoch nicht mehr glaube. Meine Mutter hat meines Wissens keinen Schulabschluß und mein Vater keine abgeschlossene Berufsausbildung, da sie beide Flüchtlingskinder sind und mein Vater als ca. 16jähriger Junge noch in den Krieg eingezogen wurde und dort wohl auch schlimme Dinge erlebt hat. Er hat heute noch als alter Mann Albträume, hat darüber aber niemals gesprochen.

Als ich ca ein halbes Jahr alt war, bekamen wir Kinder Keuchhusten. Meine Mutter hat oft erzählt, wie stolz sie ist, dass sie gerade mich durchgebracht hat, dass ich oft kurz vorm Sterben war. Ich weiß, dass ich bis zu meinem dritten Lebensjahr bei meinen Eltern im Bett geschlafen habe.
Meine älteste Schwester hat mir berichtet, dass ich oft sehr lange geschrien habe und sehr oft blau angelaufen bin, bevor meine Mutter sich um mich kümmerte, was dann so aussah: Sie hat mich an den Füßen gefasst und mir solange auf den Po geschlagen, bis ich wieder frei atmen konnte. Natürlich kann ich nachvollziehen, dass sie als junge Mutter von vier kleinen Kindern, die alle Keuchhusten haben, total überfordert war, doch ihr wurde wohl angeraten gerade mich als Säugling ins Krankenhaus zu geben, was sie abgelehnt hat. In den letzten Jahren habe ich dieses Gefühl der Todesangst oft durchlebt und mir gewünscht, sie hätte mich sterben lassen, dann wäre mir alles weitere erspart geblieben.
Ich habe nur wenige Erinnerungen an meine Kindheit, weil ich glaube früh gelernt habe, diese schlimmen Gefühle abzuspalten, doch ich kann mich erinnern, dass ich mit ca. vier Jahren an Masern erkrankte und meine Mutter mich vierzehn Tage in einem abgedunkeltem Zimmer im Kinderbett hat liegen lassen und von meiner ältesten Schwester weiß ich wiederum, dass sich meine ein Jahr ältere Schwester total wund gekratzt und gebissen hat.

Meine Mutter erzählt auch stolz, wie sie meinen einzigsten Bruder (der zweite und einzigste Sohn) mit neun Monaten „sauber bekommen hat, sie hat ihn, als er die Stoffwindel vollgeschissen hat, unter das fließende, eiskalte Wasser gehalten. Es gibt nichts dazu zu sagen, was sie mit uns Mädchen gemacht hat, ich denke genau dasselbe, was sie mit unserem Bruder gemacht hat. Unsere Mutter hat uns in dem Zimmer, in dem wir alle vier älteren Kinder geschlafen haben, eingesperrt. Einmal mußte mein Bruder, und um nicht ins Bett zu pinkeln hat er in ein kleines Kännchen gemacht, damit er keine Schläge bekommt.

Als ich sechs Jahre alt war, sind wir aus dem Dachgeschoss eine Etage tiefer gezogen, und dort nahm dann das Unglück seinen Lauf. Wir hatten keine abgeschlossene Wohnung. Ausser uns lebten dort noch eine ältere Frau (zwei Zimmer am Ende des Flures) ein Ehepaar, etwas älter als meine Eltern (zwei Zimmer gegenüber der älteren Dame), und gegenüber von uns wohnte ein Ehepaar mit einer fast erwachsenen Tochter (ein Zimmer am Ende des Flures und zwei Zimmer plus Wintergarten). Wir hatten mit sieben Personen drei Zimmer und auf der anderen Seite neben der einzigen Toilette noch ein Kinderzimmer. Das hieß, wir teilten uns die Toilette mit insgesamt dreizehn Personen, ohne Bad. Später wurde uns ein Bad plus zusätzlicher Toilette in das ehemalige Kinderzimmer eingebaut.

Der Nachbar Herr C. Hat mich über mehrere Jahre missbraucht und vergewaltigt und heute weiß ich,, dass er pädophil war. Er hat mir überall aufgelauert, im Keller, auf dem Flur, er hat mich in die Wohnung geholt, er hat es in der Küche, im Bett und im Wintergarten getan, Einzelheiten will ich hier gar nicht benennen. Einmal ist seine Frau früher nach Hause gekommen und hat gesehen, wie ich mit Ihrem Mann im Bett lag. Sie hat mich als Flittchen beschimpft und hat herum geschrien, dass sie es meiner Mutter sagt, dass ich ihren Mann verführt habe. Ich war ca. elf Jahre. Ich hatte große Angst, dass sie es sagen würde, ich glaube sie hat es getan. Dieser Mann hat mir Sätze eingeimpft, die ich bis heute nicht ertragen kann. Er hat sich nicht nur an mir vergriffen, sondern auch an meinen Schwestern. Er hat mir oft gesagt, dass ich es ganz toll mache und die Chr., ein Jahr älter als ich, sich immer so blöd anstellen würde. Er hat mir gesagt, dass er mich zur Frau macht, damit mein Mann Spaß mit mir hat. Auch meine jüngste Schwester berichtete mir von Übergriffen. Meine älteste Schwester Br. hat einmal gesehen, wie er sich an Chr. vergriffen hat und es unseren Eltern erzählt, was diese heute abstreiten. Ich weiß heute, dass ich am schlimmsten von diesem Missbrauch betroffen bin und ich bin die einzigste, die eine Therapie macht, um all dieses zu verarbeiten und nicht mehr zu verleugnen.

Ich weiß, dank meines neuen Therapeuten, dass meine Eltern daran schuld sind, dass sie den Missbrauch erst durch ihre „Erziehung“ möglich gemacht haben und die ganze Familie daran zerbrochen ist.

Heute weiß ich, dass auch meine Mutter mich vergewaltigt hat, wie oft hat sie mich verprügelt, wenn ich nicht essen wollte, was ich nicht mochte. An eine Situation kann ich mich erinnern: Ich mochte wieder einmal nicht essen, meistens mußte ich den ganzen Nachmittag am Tisch sitzen bleiben und bekam immer wieder einen „Nachschlag“, weil es „so gut schmeckte“, doch dieses Mal versuchte sie, wie so oft mich zu füttern, mir das Essen in den Mund zu stopfen, was ihr nicht gelang. Sie zwang meinen Bruder mich festzuhalten, ich lag am Boden und die Schläge prasselten auf mich ein und wenn ich zum Atmen den Mund aufmachte, schob sie mir das Essen in den Hals. Nach solchen Attacken bin ich dann zum Klo und habe alles wieder erbrochen.

Seit 1962 fuhren wir das erste Mal zu Verwandten in die „DDR“, dort war alles sehr beengt und dann kamen noch eine viel ältere Cousine mit Mann und drei Kindern zu Besuch, sodaß wir mit mehreren Personen n einem Bett schlafen mußten. Ich mußte dann mit diesen Beiden mir fremden Menschen in einem Bett schlafen, auch der Mann hat mich angefasst, als ich zwischen ihm und seiner Frau lag. Ich sehe mich heute noch weinend im Flur auf der Treppe sitzend und niemand ist da, der mich gehalten hätte.

Dieses alles und mehr war nur möglich „Dank der Erziehung“ meiner Eltern die so aussah, dass wir oft Schläge bekamen, wenn wir ihnen nicht gehorchten oder nur lachten, weil gerade mal ein anderer Schläge bekam und ich z.B. verschont blieb, weil ich gar nichts ausgefressen habe. Meine Eltern hatten ihre eigenen Gebote und Verbote für uns Kinder parat, wie nur reden, wenn wir gefragt werden, still zu sein, wenn Erwachsene reden. Ich hatte keine Freundin und wir durften keine Freunde mit nach Hause bringen, ich durfte nicht zur weiterführenden Schule, obwohl ich sehr gut war und mir das Lernen leicht fiel und meine Lehrerin sogar zu uns nach Hause kam, um meine Eltern zu überreden. Es hat alles nichts genutzt, Mädchen heiraten und brauchen keine Bildung. Ich wurde nicht aufgeklärt und über Sexualität mit meinen Eltern zu reden ist selbst heute nicht möglich, obwohl ich eine sexualisierte und gewalttätige Kindheit ohne Liebe und Zuwendung, ohne wissenden Zeugen erlebt habe. Mein Vater sagt heute noch, dass Mädchen, denen so etwas passiert, selber schuld sind.

Das letzte Mal bin ich mit ca. fünfzehn Jahren von meinem Vater geschlagen worden, weil ich mit meiner Schwester und zwei jungen Männern bis zum frühen Morgen nach unserem ersten Rendezvous uns im Auto vor der Haustür unterhalten haben.Meine Schwester ist heute noch mit diesem Mann verheiratet.

Im Jahre 1970 habe ich eine Ausbildung zur Bankkauffrau begonnen und habe diesen Beruf bis zur Geburt meines ersten Sohnes im Jahre 1981 ausgeübt, habe 1982 eine Tochter bekommen und 1987 noch einen Sohn, und als dieser 1991 in den Kindergarten kam, habe ich wieder bei meinem alten Arbeitgeber angefangen zu arbeiten.

Meinen Mann habe ich 1970 kennengelernt und ca. 1973 „lieben gelernt“. Wir sind 1977 zusammengezogen, 1979 haben wir geheiratet und unsere Kinder bekommen.

Durch das, was mir in meiner Kindheit „eingeprügelt“ und „indoktriniert“ wurde, war diese Ehe eine einzige Katastrophe, mein Mann wollte nur „Sex“ und ich wollte „Liebe und Zuwendung“ und eine Familie. Sexualität war für mich von Anfang an schwierig, M hat sich sein Recht gefordert, und wenn ich nein gesagt habe, hat er mich vergewaltigt, für mich war dieses alles irgendwie normal, ich kannte es gar nicht anders. Am schlimmsten wurde es 1988, sechzehn Monate nach der Geburt unseres dritten Kindes. Als er nicht bekam, was er wollte, hat er versucht mich zu töten, doch ich konnte mich nicht von ihm trennen, weil ich mich wie immer schuldig fühlte und er mich auch immer wieder unter Druck gesetzt hat, wenn es ihm schlecht ging. Er hat mich für alles verantwortlich gemacht und erst im Januar 1999 habe ich mich von ihm getrennt.

Mein Körper hat sich jeden Schlag zu „meinem Besten“, jeden Missbrauch gemerkt, ich habe getreu dem Schweigegebot gehandelt und gelebt. Ich habe meinem Mann vertraut und geglaubt, dass ich es nicht anders verdient hätte.

Natürlich weiß ich heute, dass ich dieses alles nicht vor meinen Kindern geheim halten konnte, ich habe geglaubt, dass ich nicht das Recht habe, ihnen den Vater zu nehmen, deshalb habe ich den Tötungsveruch nicht angezeigt und mit Niemandem darüber geredet. Natürlich haben meine Kinder, die ich wirklich sehr liebe und für die ich alles geben würde, etwas gespürt. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, hat mein Mann, der Vater, die Kinder, insbesondere unsere Tochter zum Sündenbock erklärt. Sie hat seit frühester Kindheit Neurodermitis und oft Bauchschmerzen, sie hat sich noch nie etwas sagen lassen und hat sich damit überall viel Ärger eingehandelt, sei es in der Familie oder in Schule etc. Als sie sieben Jahre alt war, haben wir wegen ihrer Neurodermitis eine Diät begonnen und gleichzeitig eine Therapie bei einem Kinderpsychotherapeuten. Dieser hat mir damals schon (ca. ein Jahr nach dem Tötungsversuch) in einem Gespräch mitgeteilt, dass er so klare Suizidgedanken bei einem siebenjährigen Kind nicht gesehen hat. Leider habe ich nicht mehr viele Erinnerungen an diese Zeit. Vorher hatten wir schon längere Zeit den Schulpsychologischen Dienst aufgesucht, die Psychologin dort hat meiner Tochter bis zur sechsten Klasse sehr oft beigestanden und geholfen. Leider habe ich vieles, was mir dort mitgeteilt wurde noch nicht verstanden, zu sehr war ich in die Gebote meiner Eltern verstrickt. Sie hatte schon in der Grundschule Ärger mit den Lehrern, weil sie immer sagte, was sie dachte und fühlte, und ich habe sie oft darin bestärkt, weil sie Recht hatte. Sie besuchte dann das Gymnasium und von Anfang an hatte Sie mit ihrer Offenheit und Ehrlichkeit viele Probleme und nach einigen Wochen in der Sechsten Klasse eskalierte dort die Situation, nachdem meine Tochter zum Vertrauenslehrer ging und eine schlechte Note in Deutsch nicht hinnehmen wollte. Die Deutschlehrerin bezeichnete sie vor der ganzen Klasse als Klassenschwein, nachdem diese ihr auch das erste Jahr schon schwer gemacht hatte. Wieder holten wir uns den Schulpsychologischen Dienst zur Hilfe, diese wollten am Unterricht teilnehmen, welches jedoch von den Lehrern abgelehnt wurde, Sonja wechselte mit dessen Hilfe zur Realschule.

Doch auch ihr Vater wurde zunehmend gewalttätiger und machte Sonja für alles verantwortlich. Im März 1996 schwänzte Sonja die Schule, wurde erwischt, bekam vom Vater Hausarrest, den sie nicht befolgte und der Vater schlug sie schon auf dem Weg von einer Freundin, er war natürlich wieder betrunken, Autofahrer hielten an, um ihr zu helfen, was er nicht zuließ. Zu Hause schlug er sie weiter, seine Mutter kam, um ihn aufzuhalten, ich habe ihn angefleht, er solle lieber mich schlagen, doch er war wie von Sinnen.

Ich habe es zu diesem Zeitpunkt nicht geschafft, meine Kinder zu nehmen und zu gehen, dieses hat meine Tochter dann im März 1997 getan, mit meiner Unterstützung, sie ist in das betreute Wohnen gegangen, Sie hat die Welt nicht mehr verstanden, sie hat rebelliert, sie hat geklaut und sie hat sich mit anderen Mädchen geprügelt, sie hat weitergegeben, was sie gelernt hat und ist dafür bestraft worden. Sie hat Drogen konsumiert und im Februar 2000 wurde Sie nach Speed und Pepkonsum in letzter Minute mit einer Hirnhautentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Die Hirnhautentzündung wurde durch eine Nasennebenhöhlenentzündung hervorgerufen, doch die Viren konnten erst durch den Genuss der Drogen ins Gehirn gelangen. Sie hat ca zwei Tage allein in Ihrer Wohnung mit diesen starken Schmerzen zugebracht. Sie hat zum Glück keine Folgeschäden behalten. Auch bei meiner Tochter gäbe es noch so viel, woran ich heute erkenne, wie Recht Sie, liebe Alice Miller, haben und ich wünschte mir, ich hätte Ihre Bücher und Ihr Wissen schon eher für mich und meine Kinder umsetzen können.

Meine Tochter ist heute vierundzwanzig Jahre, hat gerade ihre Ausbildung beendet, macht seit drei Jahren eine Therapie und ich glaube, sie hat eine Therapeutin gefunden, die ihr ein helfender Zeuge ist. Sie sieht heute, dass ihr Vater auch heute noch seine Tochter für seine Taten verantwortlich macht und sie nicht respektiert und achtet, sie hat ihm etwas angetan, deshalb geht es ihm so schlecht. Ich frage mich, was kann ein Kind seinen Eltern „antun“, ich glaube nichts. Sie haben nur Liebe und Respekt verdient.

Ich schäme mich auch heute noch oft dafür, das ich ihr nicht habe helfen können, doch ich kann heute sehen, wie schlimm es für dieses kleine Mädchen war und aus den Gesprächen mit meinen Kindern und auch meine Erinnerung sagt mir, dass ich meinen Kindern nie die Gefühle, die sie als Kinder empfunden haben abgesprochen habe. Wenn sie wütend waren, durften sie wütend sein, wenn sie Schmerzen empfunden haben, dann hatten sie Schmerzen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, so zu handeln, es ist mir jedoch oft nicht leichtgefallen.

Mein ältester Sohn hat das Leben in unserer Familie relativ gut überstanden, er ist sehr intelligent und er hat Freunde, die er seit seiner Kindergartenzeit und Schulzeit kennt. Diese Freunde tragen ihn auch heute noch. Diese Freunde waren auch für ihn da, als er mit dreizehn Jahren einen Spielunfall hatte und schwer verletzt wochenlang in der Klinik gelegen hatte, er hatte einen Milzriss und das Lungenfell war angerissen, was man nicht sofort bemerken konnte. Eine Woche lag er auf der Intensivstation und ich denke er hatte auch Todesängste, über die er jedoch noch nie gesprochen hat. Vielleicht mit seinen Freunden, was ich mir wünschen würde. Auch er hat nicht immer gute Erfahrungen mit seinem Vater gemacht, vielleicht verdrängt er auch viel, er ist sehr ehrgeizig und studiert im achten Semester Architektur, arbeitet nebenbei noch sehr viel, hat viele Hobbys, denen er nachgeht, raucht nicht, trinkt nicht und nimmt keine Drogen. Er ist in seinen Gedanken klar und weiß was er will. Deshalb ist er der „Gute“ und bei seinem Vater gut angesehen. Er hat nach der Trennung von meinem Mann oft die Vaterrolle für seinen Bruder übernommen, was dieser ihm oft übelgenommen hat. Er hat ihn damals auch sehr unter Druck gesetzt und wohl auch geschlagen, wenn ich nicht da war. Er redet nicht sehr gerne mit mir über die Vergangenheit.

Mein jüngster Sohn, jetzt fast neunzehn Jahre, war früher der Sonnenschein, er war viel bei seinen Großeltern, vom Vater, die mit bei uns im Haus lebten. Sie waren wichtige Bezugspersonen für ihn. Doch die Erziehungsmethoden und die Ansichten der Großeltern lassen einem das Wasser im Glas erfrieren. Sie haben mich nie als Schwiegertochter akzeptiert, ich hatte das zu tun, was der Mann sagt, was mir aber zu spät klar geworden war, gespürt habe ich es wohl oft, doch habe ich meinem Gefühl nie getraut. Eine Situation will ich hier kurz benennen, die mir mein jüngster Sohn vor einigen Wochen erzählt hat, an die er sich erinnert. Er war knapp fünf Jahre, der Vater war nach einem sechswöchigen Kuraufenthalt noch ein paar Tage zu Hause und unser Sohn wollte den Vormittag mit seinem Vater verbringen. Als ich gegen 13,30 Uhr von der Arbeit kam, lag mein Mann auf der Terrasse in der Sonne und schlief, wie immer, Schlafen war seine Lieblingsbeschäftigung. Ich ging ins Haus und suchte meinen Sohn, niemand da, weckte den Vater, der keine Ahnung, weil nichts bemerkt. Ich habe den Spielplatz abgesucht, Freunde angerufen, doch niemand wußte, wo er ist. Ich wollte gerade die Polizei anrufen, da klingelte das Telefon und die Erzieherin des Kindergartens rief an, dass Tobias mit dem Hüpfball gerade dort angekommen ist. Ich holte ihn ab und war froh, dass ihm nichts passiert war, obwohl der Weg für einen Vierjährigen nicht gerade ungefährlich war.
Wir kommen nach Hause und was passiert, der Vater schlägt dem Jungen auf den Po, als dieser ganz stolz berichtet, dass er es allein geschafft hatte. Ich konnte mich heute nicht mehr an die Schläge erinnern, als mein Sohn mich fragte, warum hat Papa mich damals geschlagen. Ich habe ihm geantwortet, dass es nicht in Ordnung ist. Bei ihm sehe ich die Zerrissenheit und die Verwirrung, er hat an Drogen so ziemlich alles probiert, ist Dauerkonsument von Cannabis, war im Jahre 2000 in einer psychosomatischen Kinderklinik und drei Wochen nach seiner Entlassung hat er einen Selbstmordversuch unternommen und war dann fast fünf Wochen in der geschlossenen Psychiatrie.
Zwei Jahre später war er dann noch einmal für vier Wochen in der Kinderklinik. Hat auf der Suche nach sich Selbst, alles an Gruppierungen ausprobiert. Hatte lange Zeit Kontakte zur rechten Szene, aus der er sich mit Hilfe des Staatsschutzes selbst lösen konnte. Dann folgte die extreme Linke und die Punkerszene. Im März 2003 konnte ich nicht mehr für ihn sorgen und auch er ging in eine betreute Jungenwohngruppe, die etwas weiter vom Heimatort entfernt war. Jetzt wohnt er allein in meiner Nähe und versucht Fuß zu fassen, was sich jedoch als sehr schwierig bei der heutigen Arbeitsmarktlage aussieht. Ich versuche ihm zu helfen, wo es nötig ist und wo er mich um Rat bittet, doch ich will ihm seinen Weg und seine Entscheidungen lassen. Ich weiß ja nicht, was gut für ihn ist, ich sehe jedoch, dass er die Kindheit verdrängen will, manchmal läßt er die Gefühle zu, ich sehe dann die große Traurigkeit in seinen Augen und in seiner Körperhaltung und dann wieder die starken Aggressionen, wie er es lange vorgelebt bekommen hat durch seinen Vater, der es „nur gut meinte“ und „immer weiß, was das Beste für seine Kinder ist“, auch heute noch. Auch hier gäbe es noch viel zu berichten.

Es macht mich so traurig, dass ich nichts ungeschehen machen kann, wofür ich die Verantwortung übernehmen muß.

Über meinen Weg durch die ambulante und stationäre Psychotherapie will ich hier auch noch berichten. Anfang 1997 wurde ich von meinem Hausarzt zu einem Facharzt für Neurologie und Psychotherapie überwiesen. Ich hatte auf Grund der familiären Belastung immer wieder Zusammenbrüche und konnte nicht mehr arbeiten, bekam Psychopharmaka verordnet und im Oktober 1997 ging ich für acht Wochen in eine Klinik für Psychosomatik. Ich bin dort an einen Therapeuten geraten und ich erinnere mich an eine Satz ganz besonders, der mir immer wieder sehr viel Mut macht. Immer wenn ich ihm Details aus meiner Kindheit erzählte, von Missbrauch war noch lange nicht die Rede, und meinte, das war früher so, es hat mir nicht geschadet, antwortete er mir: „Es hat auch Familien gegeben, da war es nicht so.“ Er hat mir Hilfe angeboten und er hat gesehen, was wirklich mit mir los ist, doch hat er mich niemals bedrängt. Er war da, wenn ich wieder einmal am Fenster in meinem Zimmer im fünften Stock stand und springen wollte. Ich war jedoch noch nicht bereit , trotz der vielen Erinnerungen, die sich in ständigen Albträumen, Flash-Backs, monatelangen Kopfschmerzen, Suizidgedanken, nichts essen können, hoher Blutdruck, ich könnte noch einiges aufzählen, zeigten. Ich fuhr nach diesem Beginn meiner Aufarbeitung nach Hause, hatte große Angst vor meinem Mann und den Anforderungen, die er an mich stellte. Ich begann meine ambulante Therapie weiter und nahm an einem Workshop bei diesem Therapeuten und seiner Frau teil. Nach diesem Workshop, welcher mir als Trauma-Therapie verkauft wurde, wollte ich nicht mehr leben, ich geriet in eine Abhängigkeit zu diesen Leuten und ich aß kaum noch etwas, arbeiten war nicht mehr möglich und bin dann kurze Zeit später in eine 12-Schritte-Klinik eingewiesen wurde, wo ich zwölf Wochen war. Danach habe ich mich von meinem Mann getrennt und bin dann zwei Jahre später noch einmal in diese Klinik zur „Stabilisierung und Erholung“ eingewiesen worden, nachdem ich eine ambulante Gruppentherapie bei meinen ambulanten Therapeuten über diese zwei Jahre fortgeführt habe. Aussagen während dieser Zeit in der Gruppe und in der Einzeltherapie waren unter anderem: „ Wir sind deine Ersatzeltern, wir bringen dir bei, was du bei deinen Eltern nicht gelernt hast“, „Vertrau mir, ich weiß, was gut für dich ist“, „ Du mußt verzeihen können“ usw. Ich bin in die Zwölf-Schritte-Gruppen gerannt und habe geglaubt, was dort verbreitet wurde und mir ging es zunehmend schlechter. Gleichzeitig wurde ich Ende 2000 in eine der führenden Traumakliniken in Bielefeld aufgenommen worden, und bin im letzten Jahr das vierte Mal zur Intervall-Therapie, die jedesmal zwischen sieben und dreizehn Wochen dauerte, dort gewesen. Seit Dezember 2003 bin ich bei meinem jetzigen Therapeuten, dieser hilft mir, wenn ich wieder an meinen Wahrnehmungen zweifele, mir und meinem Körper zu vertrauen.
Er sieht und nimmt Körperreaktionen wahr, die in der Therapie auftauchen und macht mir immer wieder Mut, diese zuzulassen und doch überläßt er mir die Entscheidung. Ich darf ihm alles sagen und fragen, was mir auf Grund des Jahrzehntelangem Schweigegebot immer wieder schwer fällt. Er läßt mir alle Zeit der Welt, die ich benötige und unterstützt mich auch, um die Kosten für diese Therapie erstattet zu bekommen. Durch diese sich ergänzende Therapie habe ich es Anfang 2005 geschafft, mich von den Vortherapeuten auch innerlich zu lösen und zu sehen, was dort alles nicht in Ordnung war. Es war Therapie-Missbrauch bis hin zu sexuellem Missbrauch durch die angewandten Verfahren, wie Gehirnwäsche, Casriel-Arbeit, Nahrung-u.Schlafentzug, und vor allen Dingen wieder das „Schweigegebot“. Sie müssen sich einmal vorstellen, dass ich acht Jahre nicht darüber gesprochen habe. Erst durch „Die Revolte des Körpers“ und Ihre Internetseite habe ich gesehen, dass ich meinen Eltern immer noch treu war.

Ich habe schlimme achtzehn Monate seitdem hinter mir und es ist auch noch nicht zu Ende. Die wichtigsten Schritte habe ich jedoch geschafft:

Ich habe Anfang 2005 meinen Eltern einen Brief geschrieben und ihnen mitgeteilt, dass ich den Kontakt abbreche, Sie sind zwar meine Erzeuger, mehr aber auch nicht, da sie auch heute noch nicht ihre Verantwortung sehen und übernehmen. Ich werde Ihnen niemals verzeihen, nur zu meinem Bruder und dessen Familie habe ich noch Kontakt, für alle anderen bin ich der Nestbeschmutzer und meine älteste Schwester ist der Meinung, ich muß meine Eltern nehmen, wie sie sind. Ich sehe, dass alle meine Geschwister nebst Familien die Wahrheit verleugnen, doch für mich ist dieses nicht mehr möglich, und dafür kann ich Ihnen, liebe Frau Miller und natürlich meine jetzigen Therapeutenteam nicht genug danken. Ich fange langsam an zu „leben“, was sich zwar immer noch als schwierig erweist, weil ich sehe, wie der Großteil der gesamten Menschheit um mich herum emotional noch so blind ist.
Da wo es mir derzeit möglich ist mache ich auf ihre Bücher und ihre Seiten aufmerksam, unter anderem habe ich schon des öfteren Kontakt zu Stern-TV bei RTL aufgenommen, wenn ich es für nötig hielt. Ich habe zum Beispiel vor längerer Zeit zu dem Thema Gewalt Ihr „Manifest und die Wurzeln der Gewalt“ kopiert und an Stern-TV gemailt. Natürlich habe ich noch nichts gehört, doch ich werde nicht aufhören Ihr Wissen weiterzugeben, weil ich glaube, Ihr Wissen ist das Wichtigste, was an die nächsten Generationen weitergegeben werden muß, damit die Gewalt und die Lügen endlich aufhören. Solange wie selbst eine Staatsanwältin von der Kölner Staatsanwaltschaft, bei der ich meinen EX-Mann im April 2004 angezeigt hatte und unter anderem auch über die Gewalt gegen meine Tochter in der Einstellung der Ermittlungen schreibt: „…die Tochter selber schuld ist und damit rechnen muß, daß der Vater sie schlägt, wenn sie die Schule schwänzt…“, solange werde ich meinen Mund nicht mehr halten und für Ihre Sache kämpfen.

Ich danke Ihnen für alles, was Sie bisher veröffentlicht haben.

Mit freundlichen Grüßen,
Astrid Johnke

AM: Ich habe Ihren Bericht mit großer Erschütterung gelesen. Es ist kein Wunder, dass Sie nach so einer grauenvollen Kindheit später so viel in Ihrer Ehe und mit Ihren Kindern leiden mussten. Wenn man sehr früh gelernt hat, Grausamkeit schweigend zu erdulden und hinzunehmen, fährt man damit fort, wie soll man es denn anders tun, wenn niemand hilft zu sehen, dass dies nicht normal ist? Aber es ist ein Wunder, dass Sie nun endlich das System durchschauen, dass Sie endlich sehen, fühlen und sagen wollen, was Ihnen zugefügt wurde. Das ist eher selten, denn, wie ich immer feststellen muss: je schlimmer die Menschen misshandelt wurden, um so intensiver verteidigen sie ihre Eltern und wollen sie verstehen, vielleicht in der Hoffnung, doch noch so deren Liebe zu erhalten. Sie hingegen scheinen sich von diesem Zwang befreit zu haben. Auch wenn Rückschläge noch kommen mögen (die Hoffnung!), Sie wissen bereits so viel, dass Sie sich nie mehr werden kaufen lassen. Ich wünsche Ihnen gute Begegnungen in der Zukunft, Menschen, die Ihnen gewachsen sind und die ihre Angst aus der Kindheit überwunden haben, wenigstens zum Teil.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet