Bloss nie nachgeben

Bloss nie nachgeben
Monday 04 December 2006

Leserbrief an die Zürcher Zeitung Tagesanzeiger, betreffend einen Artikel im “Das Magazin” Nr. 32 vom 21.08.06, der Ratschläge zur Erziehung der Bäbies erteilte.

Als kleines Baby möchte ich die Situation aus meiner Sicht darstellen. Leider weiss ich, warum ihr grossen Menschen so absurde Dinge über uns kleine Menschen behauptet. Daher stimme ich mit euren sogenannten Erziehungsmethoden und Regeln gar nicht überein. Im Gegenteil, ich will euch dringend auf etwas aufmerksam machen, dass die meisten von euch verdrängt haben um nicht daran einzugehen. Dies ist die Zeit, als ihr selbst kleine hilflose Menschen wart. Unglücklicherweise kommen wir nicht vollständig ausgebildet zur Welt. Wir sind bei Geburt nicht reif genug, um selbständig überleben zu können. Vor allem sind wir nicht in der Lage, eure für uns völlig abstrakten Regeln zu verstehen und mit euch darüber zu kommunizieren. Was wir in den ersten Lebensjahren dringend brauchen ist die unbedingte Nähe und den Schutz unserer Eltern. Wir fürchten um unser junges Leben, wenn wir alleine gelassen werden. Dies zeigen wir, indem wir schreien. Lasst uns bitte nie alleine! Es erstaunt mich, dass ihr Erwachsenen wohl wisst, dass in euren Gefängnissen Gefangene am meisten damit gefoltert werden, indem man sie in die gefürchtete Einzelhaft steckt. Bei uns Babys tut ihr genau dies, wenn ihr uns alleine in ein Zimmer sperrt oder alleine lässt. Möglichst noch in einen hölzernen Käfig gesperrt, damit wir nicht ausbrechen können um zu euch zu kommen. Unser Weinen, scheint euch nicht klarzumachen, dass ihr uns durch Trennung von euch foltert. Vielmehr findet ihr tausend Gründe warum wir weinen, den offensichtlichsten aber wollt ihr nicht sehen.
Übrigens wissen wir nicht, was eine Nacht ist. Unser Zeitgefühl ist schlecht ausgeprägt. Versteckt ihr euch hinter einer Zimmermauer, müssen wir annehmen, dass ihr uns alleine zurückgelassen habt.
Geographische Orientierung kommt bei uns erst in den nächsten Lebensjahren zustande. Glaubt mir, wir stehen Todesängste aus, wenn ihr uns alleine lässt! Bezüglich eurer komischen Regeln, möchte ich in Erinnerung rufen, dass wir die Begriffe ja und nein, gut und schlecht bis wir zwei Jahre alt sind, überhaupt nicht verstehen können. So viel Leid wird uns wegen eurer Regeln während unseren ersten Lebensjahren immer wieder angetan. Es ist zum verzweifeln. Dieses Leid müssen wir verdrängen, um zu überleben. Überlegt euch bitte selbst. Damals, als unsere Vorfahren in der Höhle hausten, hätten diese ihre Kinder irgendwo getrennt von sich hingelegt um zu schlafen? Das nächste Raubtier hätte die leichte Beute gefunden. Wir haben Existenzängste, wenn wir von Euch getrennt sind. Warum fürchtet ihr euch als Erwachsene, wenn ihr alleine bei Dunkelheit ohne Licht im Wald steht? Uns setzt ihr immer wieder in ähnliche Situationen ohne es zu merken. So werden wir richtiggehend gefoltert.
Später wenn wir grosse Menschen sind, “rächen” wir uns unbewusst an unseren eigenen Kindern auf genau dieselbe Art. Wir haben nichts anderes kennen gelernt! Von der Gesellschaft abgesegnete Regeln und Foltermethoden, die nie kritisch hinterfragt werden. Warum? Weil das kritische Hinterfragen in eine Gefahrenzone führt. Ich muss immer wieder beobachten, wie schnell ein fröhlicher Abend bei Euch grossen Menschen verstummt, wenn jemand es wagt, kritische Fragen über Eure eigene Kindheit zu stellen. Sehr unbequem das Thema, sehr unbequem. Ein Tabu, das mit Texten wie im “Das Magazin” elegant untermauert wird. Untermauern schützt davor, sehen zu müssen. Da wir leider keine anderen Erfahrungen gemacht haben, quälen wir im Zwang der Wiederholung, mit emotionaler Blindheit behaftet, unsere eigenen kleinen Kinder auf genau dieselbe Art und Weise, wie wir einst gequält worden sind und merken es nicht.
Einmal mehr, einmal weniger, bestenfalls gar nicht, je nach den eigenen Erfahrungen. Ihr müsst euch schon allerlei ausdenken um die psychische und emotionale Folter an uns Kindern zu rechtfertigen. So stempelt ihr euren eigenen Nachwuchs als kleine lästige schlafraubende Monster ab, die nur durch strenge Regeln konditioniert werden können. Somit sind wir mehr oder weniger wieder im Mittelalter angelangt. Damals wurde von einst misshandelten Kindern behauptet, dass alle Kinder vom Teufel besessene Wesen seien. Nur durch Zucht und Schläge könne dieser aus ihnen vertrieben werden. Wie ich leider feststelle, glaubt ihr noch heute in anderer Form an so was. Von vielen sogenannten Fachleuten wird dieser Irrglaube (das schreckliche Erbe von Generationen), elegant untermauert.
Übrigens müssen wir über zwei Jahre alt werden, um verstehen zu können, was eine Regel ist. Die nötigen neuronalen Verknüpfungen entstehen erst dann. Alle eure Versuche uns frühzeitig Regeln anzugewöhnen sind aus unserer Sicht eine Folter, deren Sinn wir überhaupt nicht verstehen können. Ihr zerstört unsere Seelen, brecht unseren Willen. Ihr quält und verwirrt uns damit. Die Entwicklungspsychologen wissen dies schon lange. Warum wird dieses Wissen nicht längst an unseren Schulen gelehrt? Ich bin empört, dass ihr Erwachsenen euer eigenes Leid von damals nicht sehen wollt. Damit würde die ganze Menschheit langsam aus einem Albtraum erwachen. Ihr müsst endlich spüren, was ihr uns und euch selbst antut, damit wir aufhören können, mit einem erbarmungslosen Fehlverhalten, das in einem ewigen Kreislauf von Generation zu Generation unbewusst weitergegeben wird. Ihr nennt euch intelligente Wesen. Auf dem Gebiet der Brutpflege sind die meisten von euch aufgrund ihrer emotionalen Blindheit nie weiter gekommen. Schaut euch bitte unsere Geschichte an um zu verstehen, was ich mit Blindheit für das Leiden von uns Kindern meine. Solche Blindheit für neue Erkenntnisse kam in anderer Form in unserer Geschichte oft vor. Sagt euch das kopernikanische Weltbild etwas? Die Präformationslehre oder der felsenfeste Glauben, dass eure Schiffe hinter dem Horizont hinunterfallen? Wir kleinen Menschen würden euch den Schlaf und eure so wertvolle Zeit rauben und für viele scheinen wir gar so schlimm zu sein, dass wir euer ganzes Leben ruinieren.
Wir würden ohne strickte Regeln zu verantwortungslosen Wesen verkommen.
Mit dieser Aussage spiegelt ihr leider nur eure eigene bemitleidenswerte Erfahrung als Kinder wieder. Ihr schafft die beste Voraussetzung für ein weiteres abgelehntes Kind. Wenn ich ehrlich sein darf, dann ist das alles ziemlich krank. Es ist erst mal nötig, dass ihr euch über euer eigenes verdrängtes Leiden aus der Zeit, als ihr so klein und hilflos gewesen seit wie ich es jetzt bin ins klare kommt. Und glaubt mir, wenn ihr anfangt zu suchen, ihr werdet finden! Doch da klemmt es. Die Angst vor dem was ihr finden könntet ist so gross, dass ihr es vorzieht, in eurer Unwissenheit zu verharren und genau das zu wiederholen und gutzuheissen, was euch einst selbst zugefügt wurde. Viele werden diese Zeilen überhaupt nicht verstehen und unter lautem Protest ablehnen; leider.
Diejenigen von euch, die sich ihrer längst vergessenen und verdrängten Vergangenheit durch unablässiges Suchen wieder bewusst werden und annähern können, die werden verstehen lernen und viele werden erschrecken. Als “Finderlohn” können sie ihre eigenen Babys schützen vor dem schrecklichen Zwang der Wiederholung. Sie werden das Falsche erkennen und ihrem wiedergefundenen Instinkt trauen. Ein Lohn der grösser ist als jede Karriere und jedes streben nach Macht und Reichtum. Der Lohn uns Kinder und vor allem sich selbst wirklich lieben zu lernen. Solche Menschen werden ihren Kindern nur noch das zumuten, was sie sich als Erwachsene gefallen lassen würden. Wem dies gelungen ist, der kann sich daran freuen, wie einfach und mit wie viel Freude wir Babys aufwachsen. So wie wir einer kleinen Pflanze Nährstoffe zuführen und sie vor Unwetter, grosser Hitze und Trockenheit schützen, damit sie sich schnell entwickelt, so werden wir Babys uns prächtig entwickeln, wenn wir euren Schutz und eure unbedingte also regelfreie Liebe geniessen dürfen. Ich kenne niemand, der sich anmasst einer Pflanze zu sagen, wie und wann sie zu wachsen hat. Sie weiss es selbst, so wie wir Babys es wissen. Wer jetzt aufschreit und empört tausend Gründe für all die Regeln findet, unter denen er meist selbst gross geworden ist, dem bin ich mit meiner Ausführung etwas zu nahe an seinen alten verdrängten Schmerz getreten. Erkennt er diesen wieder, dann kann er seine emotionale Blindheit und in der Folge all die quälenden Regeln, die er uns kleinen Menschen gegenüber anwendet, endlich kritisch hinterfragen und er wird die meisten davon für immer ablegen. Dieser Mensch versteht mich, wenn ich sage: “Babys soll man aufwachsen lassen? Babys werden sich ohne weiteres in einem emotional stabilen und aufgeklärtem Umfeld zu verantwortungsvollen Individuen entwickeln, die ihren Eltern und Mitmenschen grosse Freude bereiten.

Euer Baby

Von: Claudio Breda

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet