Die Kraft der Würde

Die Kraft der Würde
Sunday 04 November 2007

Liebe Frau Alice Miller!

Herzlichen Dank für ihre Antwort auf meine Worte, die ich im Oktober an sie gesendet und gerichtet habe. Sie sind sicher auch das Ergebnis eines langen Weges, den ich mir manchmal leichter und kürzer vorgestellt habe. Was auch bedeutet wieviel selbst aus einem selbst geschehen muß und welcher großen Unterstützung und tiefen Beistandes es auch in diesen bewegenden Prozessen geben muß. Allein wenn ich mir vorstelle wie sie mit Leserbriefen umgehen und darin klar und umsichtig antworten, ist das ein würdiges Zeichen, dass sie diesen betreffenden Menschen wahrnehmen. Nicht ihnen das in den Mund zu schreiben, sondern einfach die Tatsache, dass sie ihren Weg auch gegangen sind und daraus differenziert genug Antwort geben können.
Allein schon die Tatsache wie publik und aufreißend mit wesentlichen Problemen der Menschen im Fernsehen umgegangen wird und im Showcharakter einfach untergehen, macht mich traurig. Ich glaube die Sensibilität der Seele läßt sich so nicht heilen und so auch keines der Probleme lösen. In solchen Augenblicken scheint der Glaube an eine bessere Welt oft nur eine wackelige Annahme. Nichts desto trotz ist hier in diesem Leben, der Raum für die gegenwärtige Existenz, auch wenn eine geraubte und verlorene Kindheit hinter einem liegt. Allein schon die Richtigkeit, dass die wahrgenommenen Gefühle in der Kindheit oft genug zerstört wurden, werden sicher immer mehr Menschen dieses Bewußtsein mehr spüren und zum Ausdruck bringen. In meinen eigenen Trockenphasen, wo ich selbst spüre, dass ich mich selbst wieder mehr brauche, schreibe ich meine Gedichte.
Für mich ist es einfach der Raum geworden meine Gefühle, Ängste und Verluste zum Ausdruck zu bringen und mir auch selbst einzugestehen, woher das auch kommt: „Der Mangel aus meiner Vergangenheit.“
War doch alles sicher nicht so schlimm, höre ich oft, wenn Du so mit deinen Worten umgehen kannst und mir zeigen sie, dass es sie schon so lange gab und gibt und sie schon immer bei mir waren….und heute sind sie meine eigene Sprache und die Sprache meiner eigenen Würde geworden.

Mit herzlichen Grüßen, J. S. aus Nürnber

AM: Vielen Dank für Ihren Brief und die schöne Überschrift. Eigentlich hätte mein neues Buch auch heissen können: Die gerettete Würde, denn in meinem Therapiekonzept geht es mir auch darum, die eigene Würde zu retten und die Sprache für das erlittene Schicksal zu finden. Damit wird aber auch die von allen Religionen geforderte Toleranz für die elterlichen Übergriffe ausgeschlossen. Deren Moral gründet in der Angst des Kindes vor dem nächsten Schlag, die meistens im Erwachsenen überlebt und ihm die Würde (den Mut zur eigenen Wahrheit) wegnimmt.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet