wir lebten so unbewusst

wir lebten so unbewusst
Thursday 10 April 2008

Liebe Alice Miller,

mit dem Wort “Mutter” verbinde ich Wut und Hass. In ihren Augen waren ich und meine Geschwister in keinster Weise zufriedenstellend. Dauernd kritisierte sie unser ganzes Handeln und Tun und dachte, dass wir auf diese Weise mehr lernen und gehorchen würden. Sie wollte, dass aus uns gehorchende und unterwürfige Frauen wurden, die später ihren Ehemännern aufs Wort gehorchen sollten.

“Du kannst schon an den Blicken anderer erkennen können, was sie von dir möchten. Du kannst eine Arbeit für 10 Menschen alleine schaffen”, diese Sätze waren die einzigen Sätze, die ich noch zu den “wohlwollenden” zählen konnte. Meine Mutter, die dauernd nur auf den Beinen war um die Wünsche anderer zu vollbringen habe ich niemals als meine eigene Mama neben mir fühlen können.

Ich kann mich in keinster Weise jemals erinnern, dass wir eine Mutter- Tochterbeziehung zueinander hatten.
Meine Mutter beschreibt ihren eigenen Vater als einen Mann, der besoffen nachhause kam und alles und jeden aus dem Weg fegte, mit Tritten alles umwarf. Meine Mutter versteckte sich damals, ein kleines Mädchen, im Stall vor lauter Angst und Schrecken!!
Meine Mutter ist jetzt ca. 70 Jahre alt. Sogar das Geld, welches ich ihr zum Ausgeben gebe im Urlaub, versteckt sie unter ihrem Kopfkissen, um es “für schlimmere Zeiten” aufzubewahren. Sogar das Gemüse, welches sie im Garten hat verteilt sie an die Armen ohne es verkaufen zu können.
Jedesmal wenn sie von ihrer eigenen Schwiegermutter anfängt zu erzählen, erzählt sie nur von dem Leid, welches ihr angetan wurde. Sie glaubt einen liebevollen Ehemann zu haben. Doch im Grunde merkt sie einfach nur ihren eigenen Leiden nicht.
Mein Vater, Sohn einer tyrannischen Mutter und einem Vater, der alles machte, was seine Frau von ihm wollte, war für mich wie ein göttlicher, der alles besser wußte, von dem ich einfach nur alles lernen konnte, der alles besser machte wie ich.
Seine Ansichten waren auch meine Ansichten. Das, was er für richtig hielt, war auch für mich das Richtige, ohne Wenn und Aber. Er war mein leben, er war meine Welt.
Er war meine starke Festung, er war der liebevollste Vater in meiner Welt, der seine Frau achtet und liebt und der auch seinen 4 Kindern viel Liebe schenkte und beschützte…
BIS ICH IHRE BÜCHER ANFING ZU LESEN UND ZU VERSTEHEN!!
Er wollte, dass wir strebsame Schüler waren und einen tollen Beruf erlernten. Jeden Tag gingen wir den 5 km langen Schulweg zu Fuß hin und wieder zurück und falls wir uns nur um 10min verspäteten, standen meiner Eltern schon voller Panik an den Türen und warteten auf uns voller Angst. Sie wollten nicht, dass wir Freunde besuchten oder sie nach Hause brachten. Auch an jeglichen Aktivitäten an der Schule durften wir nicht teilnehmen.
Ich bin eine 44järige Frau und Mutter zweier Mädels( 25 und 22 Jahre alt).
Ich fühle mich wie unter einem Erdbeben, wie unter einem Scherbenhaufen.
Wenn ich mich so zurückdrehe und schaue, merke ich endlich, dass ich keinen einzigen Moment Glück gefühlt habe in meiner armseligen Kindheit, dass ich überhaupt kein Glückerfülltes Leben hatte, dass ich überhaupt nicht gelebt habe und auch nicht von meinen Eltern geliebt wurde. Mein ganzes Leben war eine einzige Lüge, ich war die ganze Zeit über Blind, mit dieser Kindesangst habe ich immer schon in einer Illusion gelebt habe.
Ich mußte einsehen, dass meine Eltern, die ich bis jetzt immer als meine Retter gesehen habe und auf diese Rettung schon immer gehofft habe, mir in keinster Weise helfen können und sogar für all das Verantwortlich sind. Und das macht mich sehr traurig.
Und dabei habe ich wirklich mein Leben lang ALLES gegeben und getan um ein einziges seliges, schönes Wort von meinem Vater zu ergattern.
Es war verpönt und uns absolut nicht erlaubt, dass wir sangen oder uns schminkten.
Ich wurde an der Universität aufgenommen, durfte diese aber nicht besuchen, da es sich nicht gehörte, dass eine junge Frau alleine in einer Stadt lebte und sich bildete.
Um meinen Vater von solch einer Last zu befreien, mußte ich meine Bildung aufgeben und wurde verheiratet und bin nach Deutschland gekommen, da mein Mann hier lebte.
In meinem Mann habe ich immer versucht, meinen eigenen Vater wiederzufinden.
Ich war zutiefst traurig darüber, wenn mir das nicht gelang.
Für alles habe ich an mir selber die Schuld gesucht. Ich sah mich wie eine Last und hatte ganz tiefe Schamgefühle. Auch wie ich in die Pubertät kam und meine Brüste anfingen zu wachsen habe ich mich endlos geschämt und wollte sie nur verstecken. Als ich mich mal geschminkt hatte und hörte, wie sich mein Vater dem Hause näherte habe ich in meinem ganzen Schrecken Waschpulver genommen um mir die ganze Schminke aus dem Gesicht zu waschen. Ich konnte danach eine ganze Woche nicht mehr sehen, da das Waschpulver meinen Augen so sehr geschadet hatte. Ich erinnere mich an einige Male wo mich mein Vater Grün und Blau schlug, aber ich fühlte keinerlei Schmerzen. Ich saß dann tagelang an meinem Platz ohne zu Essen oder zu trinken weil ich innerlich tieftraurig in mir versunken war.
Wenn er mir dann das Essen brachte, war er auf ein Mal der tollste Vater, der sich um seine Tochter kümmerte. Er ließ mich nicht hinaus bis man die Wunden an meinem Gesicht nicht mehr erkennen konnte.
Jetzt erkenne ich vieles so sehr. Ich erkenne, dass ich immer so euphorisch meine Reisen in meine Heimat, der Türkei, antrat und sehr traurig und niedergeschlagen zurückkam.
Ich erkenne, weshalb in mir, wenn ich Morgens aufwache nur Traurigkeit herrscht.
Egal wie fest ich schlafe, ich bemerkte es sofort, wenn sich mir jemand näherte oder ins Zimmer hereinkam. Ich erkenne, weshalb ich mich sehr viel wertloser fühle als alle anderen und eine Rolle annahm, wo ich mich selber für Dumm verkaufte. Ich verstehe, weshalb Trennungen mir solche Schmerzen bereiten. Ich weiß, weshalb ich endlose Trauer fühle, wenn die Krankenwagen mit lauten Sirenen unterwegs sind.
Ich weiss jetzt, warum ich kaum wagte zu atmen um ihn nicht wütend zu machen, wenn mein Mann betrunken nach hause kam.
Wenn ich meine Nachbarin über mir schreien höre nachts, weil sie von ihrem Partner zusammengeschlagen wird, nimmt es sofort Platz in meinem Traum.
Und ich träume während ich die lauten Schreie meiner Nachbarin höre, wie meine eigene Mutter auf mich einschlägt.
Ich habe einen kleinen Laden und bin selbstständig seit 13 Jahren. Obwohl ich von meinen eigenen Kunden sehr wertgeschätzt werde und als vertrauensvoll wirke, nehme ich all dies gar nicht erst zur Kenntnis sondern warte immer noch auf die erfüllenden Worte meines eigenen Vaters.
Ich habe leider die bittere Erkenntnis sehen müßen, dass ich all mein Erlebtes an meine ältere Tochter weitergegeben habe und dachte bis dahin, dass das der größte Schmerz war für mich.
Bis meine Tochter erkrankte (Morbus Hodgkin).
Nach 4 monatiger harter Chemotherapie erlangte sie wieder Gesundheit.
Jetzt wird sie endlich ihr langersehntes Psychologiestudium aufnehmen können, welches sie durch die Erkrankung bekommen hat. Was soll ich meiner Tochter denn noch sagen? Sie hat in allem Recht, was sie mir vorwirft. Nur ich möchte, dass sie weiß, dass ich nichts bewußt getan habe. Ich habe sie nicht lieben können und so wie ich selber behandelt wurde, so habe ich sie behandelt oder habe diese Erlaubnis an andere weitergegeben.
Sie ist nach ihrer Erkrankung auf eine Reha gegangen und als sie wiederkam, fiel sie mir um den Hals und meinte ” weißt du mama, du warst so gemein zu mir aber ich mag dich trotzdem”.
Ich konnte ihr nur sagen, dass ich mir gegenüber gemein war.
Die Zeit während ihrer Erkrankung macht mich heute immer noch schwindelig vor angst.
Genauso wie ich mir immer nachts auf die Zunge beiße und ich habe einen Knoten im Hals, was ich nicht runterschlucken kann.
Ich hoffe dass sie eines Tages zu mir kommt, nachdem sie ihren Psychologiestudium beendet hat und ich ihr sagen kann “vielleicht möchtest du eines Tages meine Geschichte hören, die ja auch ein Teil deiner Geschichte ist. Möglicherweise können wir dann frei darüber sprechen.”
Vielen Dank, S. B.

AM: Sie haben so sehr durch Unwissenheit leiden müssen, aber wollen jetzt mehr verstehen. Vielleicht hilft Ihnen das letzte Kapitel aus dem Buch “Dein gerettetes Leben”, um sich Ihren Wunsch zu erfüllen?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet