Auf dem Weg zu sich selbst

Auf dem Weg zu sich selbst
Sunday 22 February 2009

Sehr geehrte und liebe Alice Miller,

bedanken möchte ich mich bei Ihnen für Ihre vielen Bücher, für Ihre Homepage und vor allem, dass Sie sich nie haben beirren lassen von den vielen Menschen und Institutionen, die an Ihnen und Ihren Erkenntnissen Kritik geübt haben, ja wahrscheinlich auch oft versucht haben, Sie regelrecht „mundtot“ zu machen. Wie so viele andere haben Sie auch mich in den letzten Jahren mit Ihren Büchern begleitet und sind für mich so etwas wie eine gute Freundin und auch die „wissende u. helfende Zeugin“ geworden.

In Ihrem letzten Buch „Mein gerettetes Leben“ las ich den Satz „der längste Weg meines Lebens ist der Weg zu mir selbst.“ Sie haben mir damit, wie mit sehr vielem anderen auch, aus dem Herzen gesprochen. Seit geraumer Zeit befinde ich mich, endlich auch ganz bewusst, auf dem Weg zu mir selbst. Ohne Ihre Unterstützung hätte ich dies wohl nie geschafft und würde nicht da stehen, wo ich heute stehe. Wobei der Weg noch lang nicht zu Ende ist. Sehr geholfen haben mir die vielen Leserbriefe auf Ihrer Homepage und damit das Wissen, dass es vielen anderen Menschen ähnlich geht wie mir. DANKE, danke Ihnen und allen Verfassern der Briefe auf Ihrer Seite.

Ganz kurz meine Geschichte: Bin jetzt 46 Jahre alt und erst jetzt, in den letzten Monaten ist mir klar geworden, wie meine Kindheit wirklich war. Meine Mutter war/ist Alkoholikerin und mein Vater ist (auch heute noch, zumindest bildet er sich das ein) der Gott, der alles weiß, der alles kann und über alles und alle bestimmen will. Außerdem gibt es noch eine Schwester und einen Bruder, ich bin die älteste. Bis vor wenigen Monaten noch dachte ich, dass ich in einer „normalen“ Familie aufgewachsen bin. Ich bildete mir ein, dass das ganze Chaos, die Gefühllosigkeit, die ständigen unbarmherzigen Schläge meiner Mutter (mit allem was sie gerade greifen konnte), ihre Unberechenbarkeit, die Lieblosigkeit, die Sprachlosigkeit, die Heimlichtuerei, die Trinkerei usw., mir nichts anhaben konnten, da ich ja trotzdem mich relativ normal entwickelt habe. Einen Beruf gelernt, einen Sohn habe, verheiratet bin usw. Aber es hat mir doch was getan, weil ich kein Selbstvertrauen entwickeln konnte, weil ich nie meine Grenzen ziehen durfte, weil ich nicht NEIN sagen kann, weil ich mir einbilde nichts wert zu sein, weil ich mir einbilde, es immer anderen recht machen zu müssen usw., usw. Das schlimmste aber ist, dass ich in den letzten Monaten richtige Ängste entwickelt habe, sog. Flashbacks, die mir immer mehr und ganz deutlich zeigen, dass da noch mehr Missbrauch stattgefunden hat, an den ich mich immer noch nicht erinnern kann. Der so schlimm gewesen sein muss, dass ich es als kleines Kind verdrängen musste!! Das schlimmste daran ist zur Zeit für mich, dass ich darüber keine Klarheit habe – sie mir doch so sehr wünsche. Ich weiß, dass mein Unterbewusstsein immer nur so viel preis gibt, wie ich gerade verkraften kann. Und alle Erkenntnisse aus der letzten Zeit sind schon so heftig, dass ich sie erst einmal verdauen muss. Ich hoffe also, dass dann irgendwann auch die Bilder kommen werden. Dennoch bin ich schon „relativ“ gut in der Lage, endlich zu sehen wie meine Eltern wirklich waren. Ich weiß, dass ich von ihnen keine Liebe bekomme, nie bekommen habe und auch nie welche erwarten brauch. Ich weiß, dass ich mich um die Bedürfnisse von meinem inneren Kind zu kümmern habe, und dass dies mir gut tut. Das ist zwar alles nicht immer einfach, aber ich bin auf dem Weg.

Ich hatte lange Zeit starke körperliche Beschwerden, wie z. B. Schmerzen im Unterleib, Magen-/Darmbeschwerden, ständige Infektanfälligkeit, Kreislaufprobleme, etc. Lange Zeit dachte ich auch, dass da doch endlich mal organisch was gefunden werden müsste. Natürlich ist alles in Ordnung und seitdem ich so viele Dinge endlich richtig sehen kann, wird auch rein körperlich alles besser. Meine Schwester hat sehr schlimm Neurodermitis, oft Kreislaufprobleme, Magenprobleme etc. Organisch findet man bei ihr nichts. Sie hat aber ständigen Kontakt zu meinen Eltern (zu ihr und meinen Eltern habe ich so gut wie gar keinen Kontakt mehr!) Auch mein Bruder hat seit Jahren schon Probleme mit dem Magen, organisch ist ebenso bei ihm alles in Ordnung, er selber meint, dass er in letzter Zeit immer aggressiver wird. Er geht relativ selten zu meinen Eltern, hat aber genauso wie ich starke Ekelgefühle, vor allem meiner Mutter gegenüber. Länger als eine halbe bis eine Stunde kann er nicht bei ihnen sein, das hält er nicht aus. Dennoch geht er regelmäßig mal für ne Stunde dort hin. Dies alles tue ich schon lange nicht mehr. Bin deshalb auch typischerweise das „schwarze Schaf“ ….

Mir ist in letzter Zeit aber auch ganz deutlich geworden, dass ebenso unsere Gesellschaft uns sehr wenig Raum lässt zu uns zu kommen, uns zu entwickeln. Auch hier (in dieser so modernen Demokratie) ist es doch gut, wenn wir Menschen uns zu „Maschinen“ entwickeln, die keine eigene Meinung haben sollen, die nicht kritisch, im Sinne von konstruktiv, sein sollen, die nur für die Firma da sein sollen, am besten rund um die Uhr, die einfach funktionieren sollen wie Automaten. Sehr oft muss ich heute an das Szenario von George Orwell „1984“ denken. Als ich dieses Buch zum ersten Mal las, war es ein Science Fiction für mich, heute leider schon fast Realität. Dieser Druck, dieser öffentliche Druck macht die Menschen zusätzlich noch kränker, mal völlig abgesehen von den negativen Dingen aus Familie und Kindheit.

Zum Schluss möchte ich aber auch noch ein paar positive Dinge schreiben. Ich habe neben meinem Beruf ein Studium zum Heilpraktiker Psychotherapie absolviert, muss nur noch die Prüfung beim Amtsarzt machen, dann darf ich mich auch wirklich so nennen. Das Institut, an welchem ich das Studium absolvierte, hat Ihre Bücher sehr empfohlen – es gibt also Hoffnung!! Natürlich habe ich in den letzten Jahren die Menschen um mich herum sehr viel beobachtet. Meine eigenen ganz persönlichen Geschichten, aber auch mein Umfeld haben mich ja irgendwie auch zu diesem Studium „getrieben“. Ich habe gemerkt, dass eigentlich fast gar nicht mehr geredet wird, hier meine ich wirklich ganz persönliche Gespräche. Überall ist alles sehr schnell und oberflächlich geworden. Ich möchte, wenn ich dann später mal als psychologische Beraterin oder auch Heilpraktikerin arbeite wirklich alles tun, um vielen Menschen als wissende oder helfende Zeugin zur Seite zu stehen. Ich bin sehr überzeugt davon, dass es richtig ist – manchmal macht es mich aber immer noch ein bisschen unsicher – es ist doch alles so einfach. Damit meine ich, dass was sie herausgefunden haben: einfach nur die Wahrheit herausfinden, hinschauen und nicht verdrängen, verleugnen etc. Und ich bin sehr überzeugt davon, dass die Welt besser wäre, wenn kein Kind mehr geschlagen werden würde. (Mein Sohn ist heute 26 Jahre alt und hat von mir nur ein einziges Mal eine Ohrfeige bekommen, da war er sogar schon über 18 Jahre alt. Er ist heute ein starker, selbstbewusster junger hübscher Mann geworden, der ganz genau weiß, was er will und was er nicht will. Er hat seine Grenzen austarieren dürfen. Gott sei dank, wusste ich immer, was mir meine Eltern in diesem Sinne angetan haben und somit konnte und musste ich nichts davon weitergeben!! Und ich bin sehr stolz auf ihn.)

In der Hoffnung, dass Sie noch viele Menschen auf

Ihrem heilsamen Weg begleiten können,

grüßt Sie und Ihr Team ganz herzlich, SB

AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Iie schreiben: “Bis vor wenigen Monaten noch dachte ich, dass ich in einer „normalen“ Familie aufgewachsen bin. Ich bildete mir ein, dass das ganze Chaos, die Gefühllosigkeit, die ständigen unbarmherzigen Schläge meiner Mutter (mit allem was sie gerade greifen konnte), ihre Unberechenbarkeit, die Lieblosigkeit, die Sprachlosigkeit, die Heimlichtuerei, die Trinkerei usw., mir nichts anhaben konnten, da ich ja trotzdem mich relativ normal entwickelt habe.” Ich bin froh für Sie, dass Sie bereits eigene, bewusst erlebte Erfahrungen machen konnten und dadurch wichtige Einsichten gewonnen haben, bevor Sie sich Ihrer Tätigkeit als Beraterin widmen. Doch diese Einsichten entwichkelten Sie erst in den letzten paar Monaten. Am Schluss Ihres Briefes schreiben Sie aber, dass Sie immer schon wussten, wie schlecht Ihre Eltern Sie behandelt haben. Wie hängen die beiden Mitteilungen zusammen?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet