Soll ich mit meiner Mutter sprechen?

Soll ich mit meiner Mutter sprechen?
Tuesday 05 August 2008

Hallo Frau Miller,

vielen Dank für Ihre wunderbaren Bücher. Ich schreibe Ihnen, weil ich durch den Leserbrief “einige Fragen” dazu angeregt wurde. Ich bin ein Mann Anfang 40 und habe sehr viel Gewalt in meinem Elternhaus erlebt. Lange Zeit habe ich nur meinen Vater als den Bösen gesehen. Aber mit den Jahren ging der Fokus immer mehr weg von meinem Vater hin zu meiner Mutter. Ich sehe heute wie sie mich ausgeliefert hat und mich für das benutzt hat, was sie von ihrem Ehemann nicht bekommen hat. Ich war also Abfalleimer und Goldgrube zugleich für sie. Der Kontakt zu meinem Vater ist unwiederbringlich seit zwei Jahren beendet. Aber in Bezug auf meine Mutter lebe ich immer noch in einem wie gelähmten Zustand. Ich weiß genau, dass ich niemals das von ihr bekomme, was mir gefehlt hat, aber ich kann es nicht abschließen. Obwohl ich auch zu ihr seit einem Jahr keinen Kontakt mehr habe, kann ich mein eigenes Leben nicht leben. Ich möchte Ihnen kurz schildern, was ich vor einigen Monaten erlebt habe: Nachdem ich telefonisch vor ca. einem Jahr den Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen hatte, hatte ich vor ein paar Monaten ein gravierendes Telefonat mit meinem jüngsten Bruder. In diesem Telefonat wurde mir klar, dass meine Mutter über ihn versuchte, wieder an mich ran zu kommen. Ich sprach ihn darauf an und er gab es zu. Das machte mich so dermaßen wütend, dass ich meinen Bruder fast das ganze Telefonat hindurch anbrüllte. Es tat mir sehr gut mich so dermaßen zu entladen, da ich meine Wut für absolut berechtigt empfand. Ein paar Tage nach diesem Telefonat hatte ich ein Erlebnis, was ich niemals vergessen werde: mein ganzer Körper öffnete sich und ich empfand eine absolute Tiefe an Gefühlen: Liebe, Dankbarkeit, Traurigkeit, Mitgefühl für mich als Kind, Sehnsucht, eine ganz tiefe Bedürftigkeit. Es war schier unglaublich, ich hatte das Gefühl zum ersten Mal im Leben MEIN Leben zu haben. Das hatte ich nie zuvor erlebt! Ich fühlte mich wie der reichste Mensch der Welt, es war wirklich unglaublich. Ich wußte gar nicht, dass ich zu solch intensiven Gefühlen in der Lage war. Leider sind danach wieder ein paar Dinge passiert, in denen ich mich durch meinen Bruder und meine Mutter sehr gedeckelt gefühlt habe. Seitdem schmort meine Wut wieder in meinem Körper und ich komme kaum noch an diese weichen erlösenden Gefühle heran. Meine Mutter hatte, nachdem ich sie am Telefon angebrüllt hatte wegen dieser Sache mit meinem Bruder, einfach ein Konto aufgelöst, welches sie mir einmal vor Jahren zu meiner ausschließlichen Verfügung eingerichtet hatte. Ich hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gefühl wegen dem Konto und dachte immer unterschwellig, dass mir diese (letzte) Abhängigkeit bestimmt noch zum Verhängnis werden würde. Genau so kam es dann auch, als sie dieses Konto ohne mich zu benachrichtigen einfach auflöste. Ich war in heller Aufregung und hatte sehr starke Ängste (wohl eher eine Scheisswut). Ich telefonierte wegen dieser Sache zwangsweise ein paar Mal mit meiner Mutter und unterdrückte meine Wut ganz bewußt, weil ich Angst hatte, dass ich sonst mein Geld nicht mehr bekommen würde. Mittlerweile ist diese Kontogeschichte erledigt und ich habe mir ein eigenes eingerichtet. Seit diesem Vorfall geht es mir wieder beschissen, ich stehe unheimlich unter Druck. Ich habe das Gefühl zu explodieren und wahrscheinlich wäre es auch das Beste. Ich möchte endlich mein eigenes Leben leben können. Der Kontakt ist wie gesagt seit einem Jahr abgebrochen (bis auf die Kontogeschichte) und ich habe seit dem Telefonat mit meinem Bruder auch das Gefühl, dass die giftige Nabelschnur zu meiner Mutter durchtrennt ist – für immer! Aber trotzdem fehlt mir die innere Freiheit, ich habe das Gefühl, ich brauche noch eine letzte Auseinandersetzung, in der ich all meine Wut rauslasse, damit ich meine Mutter innerlich endlich verabschieden kann. Übrigens habe ich nach dieser ganzen Geschichte auch den Kontakt zu meinem Bruder abbrechen müssen und habe jetzt mit meiner ganzen Familie keinen Kontakt mehr und bin ganz alleine. Am liebsten würde ich mich mit meiner Mutter irgendwo treffen und ihr alles um die Ohren hauen was sich angestaut hat. Dann denke ich auch manchmal daran ihr einen Brief zu schreiben. Aber da ständen wahrscheinlich nur Sachen drin, die mich noch wütender machen würden und ich mich dann nicht unmittelbar dagegen zur Wehr setzen könnte. Ich habe auch das Gefühl, dass ich niemals eine vernünftige Beziehung mit einer Frau eingehen kann, so lange diese Muttergeschichte noch in mir gärt. Was meinen Sie Frau Miller: soll ich mich ein letztes Mal mit meiner Mutter konfrontieren und alles rauslassen? Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen, da ich einfach nicht mehr weiter weiß.

Beste Grüße an Sie Frau Miller

AM: Es sieht so aus, dass Sie diese Begegnung noch brauchen, um sicher zu sein, dass das, worauf Sie noch warten, eine totale Illusion ist. Ich denke, dass diese Begegnung mit Ihrer Wahrheit Sie für neue Beziehungen mit Frauen befreit. Durch Ihre Klarheit und das bisher gewonnene Wissen sind Sie heute so stark, dass Sie sich diese Begegnung leisten können, auch wenn Sie viele alte Schmerzen und vielleicht auch hineinprogrammierte Schuldgefühle aufschwemmen kann. Doch Sie brauchen es unbedingt, die Wahrheit zu sehen und sich nicht nochmals kaufen zu lassen, wie es mit dem Konto der Fall war. Sie haben sich dort befreit und werden hier noch ein Stück mehr Freiheit bekommen. Wie bekommt man sie denn? Indem wir die schreckliche Angst des kleinen Kindes als Erwachsene erleben und sie auf diese Art loswerden können- ENDLICH FÜR IMMER. Beim Konto mussten Sie diplomatisch vorgehen, jetzt aber hindert Sie niemand, Ihrem seit Jahren aufgestauten Zorn Ausdruck zu geben. Ihr Körper scheint Sie sehr gut zu begleiten, Sie dürfen ihm vertrauen!

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet