Die Wahrheit in (Phantasy-) Filmen

Die Wahrheit in (Phantasy-) Filmen
Wednesday 13 June 2007

Brief an Alice Miller

Sehr geehrte A.M., sehr geehrte/r M.B.,
mit Interesse habe ich Ihre Korrespondenz zum Thema Phantasy-Filme verfolgt.
Der traurige Tenor, den ich heraushörte, war:
Die Filmindustrie unterstütze die schwarze Pädagogik durch solche Filme wie „Village of the damned“, da die Kinder als gruslige Aliens dargestellt werden.
Da bin ich anderer Meinung!
Massenfilme werden nicht zur Massenverdummung gemacht, sondern letztlich zur „Massenbewahrheitung“!
Kein Mensch, besonders wenn er im Alltag unter den Auswirkungen der schwarzen Pädagogik leidet, würde in seiner Freizeit freiwillig in einen Film gehen, der ihn diesbezüglich belehrt.
Was also zieht ihn oder sie dann ins Kino? Die Suche nach Wahrheit, nach wahren, echten Gefühlen! Im Kino können all die verdrängten negativen wie positiven Gefühle der Kindheit erlebt werden.
Gerade Phantasy-, Horror-, Grusel- und Zeichentrickfilme werden speziell für Kinder und Jugendliche gemacht. Sie erzählen die Wahrheit der menschlichen Seele, aber in verschlüsselter Form. Würde sie direkt erzählt, würden die Vertreter der schwarzen Pädagogik (äußere wie verinnerlichte Eltern) auf den Plan gerufen.

Ich bin gerade dabei, diese künstlerischen Verschlüsselungen zu entschlüsseln.
Den Film „Village of the damned” habe ich zwar nicht gesehen, aber nach der Inhaltsangabe würde ich ihn wie folgt entschlüsseln:
Der Kunstgriff des Drehbuchs oder der Vorlage besteht darin, die Rollen der Eltern und der Kinder zu vertauschen, damit niemand auf die Idee kommt, dass es sich um die kindliche Realität handeln könnte. Die Bedrohung durch die Alien-Kinder steht natürlich für die Bedrohung durch die grausamen Eltern, die man so zu erklären versucht, dass diese wiederum keine menschlichen Eltern haben, sondern irgendwie „verhext“ sind. Was sich letztlich vermittelt, ist die Realität der Bedrohung und das Unverständnis über die Grausamkeit, also die wahren Gefühle des Kindes.
Und DESHALB wird ins Kino gegangen oder an der Glotze gehangen.
Der Plot dient nur als Krücke für die wahren Gefühle.

Als weiteres Beispiel für solch eine Verschlüsselung: der aktuelle James-Bond-Film „Casino Royale“.
Hier wird die Problematik einer kranken Mutter-Sohn-Beziehung gezeigt.
„M“, die Chefin des britischen Geheimdienstes, schickt den Geheimagenten James Bond um die halbe Welt, um zu töten. James Bond weiß nichts über „M“s wahre Identität und es ist ihm verboten worden, sie herauszufinden. Als er in „Casino Royale“ dennoch recherchiert und offensichtlich (was genau erfahren wir nicht) etwas herausfindet, wird „M“ richtig sauer („Mach das nie wieder, James!“).
Als er jedoch „aus Versehen“ ein paar unschuldige Menschen umbringt, schüttelt sie nur den Kopf „ts, ts!“, als ob er aus Versehen Porzellan zerbrochen hätte. Diese Verhältnismäßigkeit ist interessant!
Und im Laufe des Films wird auch klar, warum er ihre wahre Identität nicht herausfinden darf: „M“ ist in Wahrheit seine Mutter! In einem Nebensatz wird erwähnt, dass James Bond im Heim aufgewachsen ist. Und ich könnte wetten, dass im letzten James Bond Film (vielleicht im Jahr 2050) „M“s wahre Identität aufgedeckt wird. Im Namen der Menschheit bitte ich darum, dass das früher – so bald wie möglich – geschieht, vielleicht wachen dann ein paar Muttersöhne auf.
Möglicherweise trage ich aber auch nur Eulen nach Athen und die Aufdeckung ist bereits geschehen, da „Casino Royale“ in einer Art großen Rückblende die Anfangszeit von James Bonds Geheimdiensttätigkeit zeigt. Die späteren Filme habe ich noch nicht untersucht.
Die Grausamkeit von „M“ kennt keine Grenzen. Sie bringt ihn ständig in Lebensgefahr und man muss sich fragen, warum sie ihm mit den machtvollen Mitteln des Geheimdienstes so selten zu Hilfe kommt. Sie treibt ihn immer zum äußersten, bis knapp vor den Tod (!).
In „Casino Royale“ verliebt sich James Bond ernsthaft und natürlich muss diese Frau sterben. Interessanterweise wird im letzten Augenblick deutlich, dass sie James ihre Rettung versagt, also lieber sterben möchte, als gegen „M“ und „deren“ Geheimdienst um James’ Liebe zu kämpfen…
Nach dem Tod der Liebsten „kündigt“ James Bond seine Verbindung zu „M“, möchte aus dem Geschäft aussteigen. „M“ ignoriert dies und gibt ihm den nächsten Auftrag. Wie im “richtigen” Leben zwischen Mutter und Sohn.

Solange sich Drehbuchautoren ihrer eigenen Wahrheit nicht bewusst sind, werden sie immer verschlüsselte Filme schreiben.
Es gibt aber auch eine erfreuliche Entwicklung:
Der Film „Vier Minuten“ z.B., der deutlich und schonungslos den Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und daraus resultierendem verzweifeltem Mord aufzeigt, ist mit Preisen überhäuft worden!
Dani Levy hat in seinem Film „Mein Führer, die wahre Wahrheit über Adolf Hitler“ deutlich Bezug auf Ihre, Frau Millers, Untersuchungen genommen. Das hat er in einem Interview bestätigt.
Der Film “Zodiac” über den Serienmörder Ende der 60er, Anfang der 70er-Jahre in Kalifornien stellt die große Frage, warum der Täter “aus Mangel an Beweisen” nicht dingfest gemacht worden ist. Und das, obwohl seine Täterschaft sehr offensichtlich ist. Hat da etwa jemand seine schützende Hand über ihn gehalten, um den Zusammenhang zwischen Pädophilie und Mord zu verschleiern? Es scheint so.

Ich bin sehr froh geworden, als ich dieses Entschlüsselingsinstrument in der Hand hatte. Denn dadurch wird deutlich, dass die „Massen“ nicht dumm sind und auch nicht verdummt werden können. Nun kann ich „einfache“ Filme auch genießen, bzw. habe ein Hobby daraus gemacht, Filme (und auch Theaterstücke) zu entschlüsseln, auf ihren Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen.
Für mich als darstellende Künstlerin bedeutet das auch eine Ausweitung meiner Möglichkeiten. Ich unterscheide nun nicht mehr zwischen kommerziellen oder künstlerischen Aufgaben, sondern zwischen wahren und weniger wahren. Natürlich interessieren mich die Wahren mehr.

Außerdem bestätigt sich für mich dadurch auch wieder der Zusammenhang zwischen Kultur und Menschlichkeit. Hätten wir diese „Massenfilme“ nicht, könnten sehr viele Menschen nicht mal im Kino ihre wahren Gefühle spüren. Und wer weiß, was sie dann anstellen würden…

Gleichwohl wünsche ich mir mehr wahre, unverschlüsselte Kunstwerke.
Packen wir’s an!

K. B.

AM: Es steht Ihnen natürlich frei, in der Kunst den verschlüsselten Ausdruck der Wahrheit zu suchen, ich tue es ja zum Teil auch, wenn ich abstrakte Bilder male. Aber ich meine, dass der Film eine große Chance bietet, die Realität des Kindes im Gefängnis der machtbesessenen Eltern zu entlarven, und dass vielen Menschen damit die Augen aufgehen könnten. Es ist schade, dass wenige Filmemacher den Mut haben, diese Realität unverschlüsselt darzustellen, es fehlt ihnen auch das nötige Bewusstsein, das Sie offenbar haben. Aber ich teile Ihre Befürchtung nicht, dass unverschlüsselte Filme keine Besucher finden würden.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet