Schade ich mir selbst?

Schade ich mir selbst?
Friday 05 January 2007

Liebe Alice Miller

Ich habe alle Ihre Bücher gelesen, sie sollten für jeden Pflichtlektüre sein. Ich lese regelmässig die Leserbriefe und Ihre Antworten, die mir sehr viel Kraft geben. Ich finde darin Zustimmung, dass ich das Recht habe mich für mich ein zu setzen und mich zu wehren und sei es gegen die eigenen Eltern. Ich wurde von meinen Vater sexuell missbraucht, was mir vor ca. 15 Monaten bewusst wurde. Den Kontakt zu meinem Vater abzubrechen war ein Kinderspiel, das viel grössere Problem ist meine Mutter. Sie hörte mir anfangs zu, konnte es schlussendlich aber nicht annehmen und glaubte mir nicht. Nach nun ca. 8 Monaten sah ich sie auf ihren Wunsch für ein Gespräch wieder. Sie kann es immer noch nicht annehmen, ist jedoch völlig durcheinander und sehr hilflos. Ich sehe, dass sie selbst Opfer ist, gleichzeitig aber natürlich auch Täter, denn ich weiss genau, sie hätte dazumal die Möglichkeit gehabt hinzuschauen. Ich sehe all ihre völlig hirnsinnigen Reaktionen die letzten 15 Monate mir gegenüber, was alleine schon genügend Grund wäre mein Verhalten nicht zu hinterfragen. An diesem Gespräch habe ich ihr deutlich gesagt, dass wenn sie nicht beginnt hinzuschauen, ich keinen Kontakt mehr mit ihr haben möchte. Dies meine ich so und werde es auch durchziehen, obwohl der Schmerz unendlich gross ist und mich manchmal fast zerreist. Es schmerzt mich vor allem deswegen, weil ich das Gefühl habe, böse und hart zu meiner Mutter zu sein. Würde meine Mutter mich offensichtlich aus bösem Willen benutzen, weil sie eben böse wäre, dann wäre es für mich kein Problem. Doch sie macht es nicht aus bösem Willen, sie ist völlig hilflos und noch vor 2 Jahren sah ich alle Dinge genau so wie sie. Ich weiss also, wie es ist, blind zu sein und nicht zu sehen. Ich frage mich, darf ich weiterhin hoffen, dass sie vielleicht eines Tages dies oder wenigstens einen Teil an erkennt. Ich weiss selbst, dass realistisch gesehen wenig Hoffnung besteht (meine Mutter ist über 70 Jahre), aber die Hoffnung besteht doch trotzdem und dieser möchte ich mich nicht verschliessen. Mache ich mir da selbst etwas vor oder schade ich mir sogar selbst, wenn ich diese Hoffnung aufrecht erhalte?

Ich danke Ihnen, Sie sind ein Engel. S. S.

AM: Es ist ungemein schmerzhaft und es macht sehr wütend, wenn wir erleben müssen, dass wir schwer verwundet wurden, aber man es uns nicht glaubt, und dies noch die eigene Mutter. Das ist so unerträglich, dass viele Menschen sich lieber selber beschuldigen und an der Wahrheit der eigenen (körperlichen!!!) Erfahrung zu zweifeln beginnen, was zu schwersten Verwirrungen bis zur Schizophrenie führen kann. Zum Glück lassen Sie sich nicht verwirren und sehen diese Gefahr, aber vielleicht noch nicht vollständig. Daher ist Ihre Frage durchaus berechtigt: Schaden Sie sich selber, wenn Sie die Schuld Ihrer Mutter bagatellisieren? Ich meine, diese Frage unbedingt mit “JA” beantworten zu müssen. Sie schulden nicht Ihrer Mutter, sondern dem Kind, das Sie waren, die VOLLE EMPATHIE, dieses Kind braucht Ihre volle und eindeutige Parteilichkeit.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet