Vorsichtiger Optimismus

Vorsichtiger Optimismus
Tuesday 14 April 2009

Liebe Frau Miller,
Ich denke auch, dass man Empathie für das eigene Kind nicht aus Büchern und Vorträgen lernen kann, solange die Leiden der eigenen Kindheit vollständig geleugnet werden; aber ich setze meine Hoffnung auf die Tatsache, dass die Verleugnung nicht immer vollständig und endgültig ist. Bücher, Vorträge, Elternschulen können nur nützlich sein, wenn der Leser, Zuhörer, Teilnehmer vielleicht den Kontakt mit dem inneren Kind zwar verlor aber den Zugang nicht ganz verriegelt hat. Manchmal kann die Tür sich halb öffnen und der Mensch stellt sich Fragen wie zum Beispiel: „ warum wollte ich meine Kinder mit Liebe erziehen und werde nervös, sobald sie Lärm machen oder nicht sofort gehorchen? Warum stört mich ihr Verhalten, obwohl ich weiß, dass Kinder lebendige, laute Tätigkeiten brauchen?“ Ich bin sicher, weil ich es bei Menschen habe betrachten können, dass Ihre Bücher, Ihre offenen Briefe und in minderem Maße Vorträge und Debatten einem Bedürfnis entgegenkommen, eine echte Beleuchtung über alle Probleme der Erziehung und der Eskalation der Gewalt zu haben.

Sie haben der Welt nicht nur intellektuelle kostbare Informationen gegeben, sondern die echte Empathie, die alle Menschen brauchen und so selten treffen. Man fühlt diese Empathie bei der Lektüre Ihrer Bücher. Der Leser kann nicht gleichgültig sein, einerseits, weil er – oft zum ersten Mal – eine wahrheitsgetreue Sprache liest, andererseits weil Sie selbst ein authentischer Mensch sind.

Leider habe ich auch gemerkt, wie ihre Arbeit oft Angst erregen kann, weil sie tiefe Saiten erklingen lässt, so dass die erstickten Gefühle plötzlich teilweise aufleben. Diese Angst zeigt jedoch, dass die empfindlichen Saiten nicht ganz gelähmt sind. Aber dass die Arbeitsweise des Gehirns seine Reaktionen auf die ursprünglichen Traumen der Kindheit wiederholt. Als Referentin stelle ich mich diese Frage: Wie können wir die Wahrheit über die Konsequenzen der Erziehung vermitteln und zugleich diese Angst vor den verdrängten Gefühlen vermindern? Wenn die Menschen fühlen, dass der Zugang zur eigenen Kindheit nicht nur schmerzhaft sondern auch befreiend ist, wagen sie es oft, den ersten Schritt zu machen. Ihre Bücher zeigen uns sehr gut die beiden Seiten. Als Vortragende sollen wir unsere Begeisterung für die Möglichkeiten vermitteln, die ihre Arbeit enthüllt.

Sie haben vielen Menschen dazu geholfen, mit unnützlichen oder sogar schädlichen Therapien aufzuhören, und eine Zeitlang, allein Fortschritte zu machen. Dank Ihnen wollen viele Leser die Wahrheit über ihre eigene Kindheit kennen. Wir wissen jetzt, dass es möglich ist, mit der Gewalt fertig zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen die Menschen klare Erklärungen, die Vermittlung von Forschungen, Erfahrungen, von denen sie sich betroffen fühlen und die ihnen einen rettenden Ausweg vorschlagen. Das alles bringen Sie uns.

Bestimmt lebt noch die Mehrheit der Menschen ohne dieses Wissen und wahrscheinlich wird ein gewisser Anteil von ihnen ihr Leben lang die Leiden ihrer eigenen Kindheit leugnen und keine Empathie empfinden, weil ihre Gefühle unterdrückt wurden und die Erinnerung an die Traumen zu tief verdrängt wurde. Diejenigen, die dieses Wissen haben, sollen sich aber bemühen, soviel wie möglich, sooft wie möglich, es zu vermitteln und zu überlegen, wie sie die Leser und Teilnehmer an Vorträgen gründlich erreichen können. Ein empathisches Verhalten soll natürlich der Rede entsprechen. Die Fortschritte in Neurobiologie werden unsere Arbeit der Vermittlung immer mehr bereichern können. Teilen Sie nicht meinen Optimismus?

Mit meinen besten Grüssen, F.C.

AM: Vielen Dank für Ihren wichtigen Brief. Doch, Sie haben sicher recht, dass wir den Kampf gegen die Ignoranz nicht aufgeben dürfen, diese Ignoranz ist nicht immer total, und manche Menschen sind vielleicht gerade auf dem Weg zu einer Öffnung, wenn Sie ein Buch in die Hände bekommen oder einen Vortrag hören, und dann geschieht “die Zündung”. Ich bin so froh, dass Sie diese Tätigkeit der Aufklärung gewählt haben und an deren Wirkung glauben. Es gibt so wenig Menschen, die diesen Weg gehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet