Trotzdem Apelle?

Trotzdem Apelle?
Tuesday 05 January 2010

Werte Frau Alice Miller,

vielen Dank für ihre schnelle Antwort.
Ich habe einen Teil ihrer Bücher gelesen und das war mit ein Grund, dass ich meine Kindheit begonnen hatte, mit anderen Augen zu sehen. In mehreren Therapien bei H.-J. Maaz habe ich dann angefangen, wieder “Fühlen” zu lernen, also auch die Schmerzen zu fühlen, die ich als Kind unterdrücken und verdrängen musste. Ich war nie geschlagen worden, aber mein Vater starb, als ich 7 Wochen alt war und meine Mutter konnte keine emotionale Beziehungen gestalten. Ich wuchs also in einem leeren Raum auf. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, niemand interessierte sich dafür, nur meine Zwillingsschwester. Wir nahmen uns also beide an die Hand und begannen, durch das Leben zu stolpern. So hatte ich wenigstens eine emotionale Beziehung, das konnte aber das Fehlen von Vater und Mutter nicht ersetzen. Erst in der Therapie habe ich wieder ansatzweise fühlen können, wie es weh getan hat, umsonst nach meiner Mutter oder meinem Vater zu rufen. nach der Therapie habe ich meinen Ingenieurberuf an den Nagel gehangen und zusammen mit meiner Frau in Dresden im Jahr 2000 einen Kindergarten eröffnet. Durch die Therapie haben wir beide verstanden, was Kinder wirklich brauchen und wollten das weiter geben. Zunehmend gerieten wir jedoch in Konflikte mit Eltern und den Erziehungszielen des Bundeslandes Sachsen, die eine frühkindliche Bildung anstreben, damit Kinder schon früh auf eine Leistungsgesellschaft vorbereitet werden. Deshalb haben 2007 parallel zum Kindergarten eine Elternschule begonnen, um Eltern dazu zu gewinnen, die Bedeutung des “Fühlen” zu verstehen und “Fühlen” wieder zu erlernen. Einen Teil der Eltern erreichen wir, der größere Teil geht jedoch in den Widerstand.
Meinen Brief an Sie hatte ich geschrieben, weil die gegenwärtige Entwicklung in der Welt mir Angst macht und ich befürchte, dass wir keine mehrere hundert Jahre Zeit haben. Ich suche nach Wegen, wie ihre Ansichten und die von Arnold Gruen, H.-J. Maaz, Wilhelm Reich und vielen anderen mehr in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden können, damit immer mehr Menschen sich auf den Weg machen, wieder “Fühlen” zu lernen. Es fällt mir einfach schwer auf die Zukunft zu vertrauen und es zerreißt mir manchmal fast das Herz, wenn ich die strahlenden Augen der Kinder bei uns sehe und glaube, dass sie keine Zukunft mehr haben werden.

Mit freundlichen Grüßen, KW

AM: Sie machen sich Sorgen um die Zukunft der Menschheit. Das kann ich gut verstehen und diese Sorgen auch teilen. Sie stellen fest, dass nur einige in Ihrer Gruppe verstehen, was Sie ihnen sagen wollen, und die meisten nicht. Trotzdem glauben Sie, dass die Menschheit durch Apelle schneller vor dem Untergang gerettet werden kann, als durch die Konfrontation mit ihrer brutalen Vergangenheit. Weshalb?

Werte Frau Alice Miller,

ich glaube nicht an Apelle.
Vieleicht habe ich mich nicht klar genug augedrückt.
In den Medien wird in erster Linie die Verbesserung der frühkindlichen Bildung propagiert. Viele Eltern sind dadurch beeinflusst. Mir geht es darum, dem mehr in den Medien entgegenzusetzen. Wichtig ist nicht die frühkindliche Bildung sondern die Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung in Richtung einer liebevolleren Beziehungskultur. Wenn das in den Medien stärker vertreten würde, wäre es leichter, mit Eltern darüber ins Gespräch zu kommen und schließlich im Gespräch den Schwerpunkt auf deren eigene Kindheit zu legen. Meine Erfahrung ist dann (zumindest bei einigen) einen Prozeß in Gang zu setzen, bei dem sich die Eltern immer mehr gefühlsmäßig auf ihre eigene Kindheit einlassen und möglicherweise therapeutische Hilfe suchen, ihre eigenen Schmerzen bewußt zu machen. So war es bei mir auch. Begonnen habe ich mit der Suche nach Wegen, meine Beziehung zu meinen eigenen Kindern zu verbessern und in diesem Prozeß bin ich bei meiner eigenen Kindheit gelandet.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet