Bindung an die Eltern

Bindung an die Eltern
Saturday 06 October 2007

Liebe Alice Miller,

eben las ich einen Leserbrief an Sie, in dem es darum ging, man müsse seinen Eltern doch verzeihen. Wissen Sie, ich habe festgestellt, dass ich diese Gedanken immer habe, wenn meine Verzweiflung an ihrer Grausamkeit nicht zum Aushalten ist. Und meine Sehnsucht nach meinen Eltern zu groß wurde. Ich habe das Gefühl, dass Sie mit Ihrer Vehemenz recht haben. Ich habe Sie so verstanden: Ein Mensch muß seine ganz eigenen echten Gefühle fühlen können, wirklich fühlen können, um erkennen zu können, was und wem er verzeihen möchte. Echtes Verzeihen setzt zudem voraus, dass jemand, der mich verletzt hat, diese Verletzung wahrnimmt und aufrichtig um Verzeihung bittet. Ansonsten verzeihe ich etwas, dass der andere gar nicht als schlimm wahrnimmt, und mache damit mir und ihm etwas vor. Erst wenn ganz klar ist, was richtig und was falsch ist und zwar ganz konkret, dann ist die Welt in mir in Ordnung. Mir muß ganz klar sein, wo meine Eltern sich konkret falsch verhalten haben (durch Schläge, Vernachlässigung, Verweigerung von Schutz, Beschuldigungen usw), dann kann ich meinen gerechten Zorn, meine Trauer, meine Angst, meine Verzweiflung fühlen. Dann bin ich frei und kann mich ganz selbstverständlich bei meinen Kindern richtig verhalten. Ich habe das Gefühl, die meisten Menschen weichen immer wieder in das Abstrakte, in das Intellektuelle und in die Spiritualität. Weil das Konkete, das körperlich Erfahrene so schrecklich ist. Sie, Frau Miller, rufen gar nicht zum Haß auf. Das habe ich verstanden. Sie rufen dazu auf, sich selbst zu fühlen. Sie beschützen die Kinder. Ich habe an mir selbst festgestellt, dass ich immer wieder verzeihen wollte. Meine Seele und mein Körper schreien dabei auf. Ich denke, dieser Wunsch nach Verzeihung entspricht dem des Kindes nach grenzenloser Liebe, dem Kind das sich mit allem verbunden fühlt, und zwischen sich selbst und dem anderen nicht trennen kann. Ich finde, liebe Alice Miller, dass ein klares eindeutiges Verurteilen von Kindesmißhandlung absolute Notwendigkeit hat, und auf gar keinen Fall umgangen werden kann. Nur dieses klare Verurteilen ohne jeden Zweifel befreit das gequälte Kind in mir von seiner Verwirrung. Und nur auf diesem Wege äußere ich echte Liebe zu den gequälten Kindern in meinen Eltern, die diese nicht haben zu Wort kommen lassen. Ich sehe an mir selbst, was auch in dem besagten Leserbrief zum Ausdruck kommt: der immer wieder aufflackernde Wunsch nach Symbiose mit der Welt ist äußerst gefährlich für die Wahrheit des Kindes, das von seinen eigenen Eltern als Feind behandelt wird. Andererseits kommt in diesem Wunsch nach Verzeihung auch die starke Bindung zum Ausdruck, die Kinder an ihre Eltern haben. Es ist wahnsinnig schmerzhaft, ohne die Sicherheit der Bindung an die Eltern zu leben. Deswegen flackert auch bei mir immer wieder der Wunsch nach Vertuschung auf. Dennoch ist mein wahres Selbst inzwischen sehr stark, und der falschen Kompromisse werden immer weniger. Ich habe als Mensch ein sehr großes Bedürfnis nach Bindung, und meine Mutter und ich waren tatsächlich mal EINS, als sie mit mir schwanger war. Das läßt sich auch nicht wegreden. Umso schmerzhafter ist es, was sie mir konkret immer wieder angetan hat. Ich habe jetzt sporadisch mit ihr Kontakt, wenn ich das wünsche, und ich merke selbst, wie gut oder schlecht mir das tut. Es mag sogar richtig sein, dass wir letzten Endes alle eins sind, und darum ist es ja so schrecklich wenn Eltern ihren eigenen Nachwuchs ausrotten und quälen und das muß unbedingt unterbunden werden. Echte Spiritualtität bedeutet für mich Respekt vor dem Leben, und mir wurde schon als kleines Kind konkret gezeigt, dass meine Eltern den oft nicht fühlen. Es ist sehr gefährlich, sich vor der eigenen körperlichen Erfahrung zu verschließen. Wut hat eine sehr wichtige Funktion. Sie tritt auf, wenn ich verletzt werde und muß unbedingt geäußert werden, denn sie dient der Lebenserhaltung und stellt ein Warnsignal an den Verletzenden dar. Nur wenn ich meine wahre riesengroße Wut auf meine verbrecherischen Eltern fühle, kommt die Welt in mir in Ordnung. Das ist echte Liebe, denn echte Liebe bedeutet Aufrichtigkeit und Nähe. Wenn ich mich zeige, wie ich wirklich fühle, bin ich voller Liebe zum Leben. Und diese Liebe spüre ich bei Ihnen, und dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen,

A. K.

AM: Ein Kind kann ohne die Bindung an die Eltern nicht überleben. Der Erwachsene kann das lernen und muss es eigentlich, wenn er wirklich erwachsen werden will. Der Umstand, dass wir einmal im Bauch der Mutter waren, zwingt uns nicht wie ein Embryo zu leben; wir wollen doch auch nicht wie ein Erstklässler denken, wenn wir an die Wahlurnen gehen, um den Präsidenten unseres Landes zu wählen, nicht wahr?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet