Einem Wiederholungszwang entkommen
Wednesday 09 July 2008
Liebe Alice Miller,liebe Barbara
bitte verzeihen Sie, dass ich mich so kurz nach meinem letzten Brief erneut an Sie wende, aber Sie sind die Einzigen, die ich kenne, die meine gegenwärtigen Gefühle verstehen können.
Ich bin zutiefst bestürzt, erschrocken und entsetzt, weil ich mit meinem eigenen Wiederholungszwang konfrontiert wurde. Sie schreiben: „Der Zwang zur Wiederholung ist stärker als jede Vernunft“.
Und ja, ich bin ein vernünftiger Mensch. Aber ich habe meinen wahren Gefühlen nicht getraut.
Ich habe meine Interessen verraten. Ich bin entsetzlich dumm gewesen, obwohl ich – auf der gedanklich-analytischen Ebene – die Wahrheit gesehen hatte – aber eben nur dort, nicht in meinen Gefühlen. In endlosen Gedankengängen hatte ich mir die Wahrheit versucht vor Augen zu führen, aber die Welt der Gefühle wollte einfach nicht folgen. Nun, worum geht es:
Im vergangenen Jahr hatte ich mich in eine Frau verliebt. Dieses Gefühl war mir neu, denn bislang kannte ich nur meine Zuneigung zu Männern. Und es weckte auch meinen Argwohn, aber ich ignorierte diesen. Dabei ist der Argwohn bei mir das, was bei Barbara Rogers der Ärger ist -etymologisch sind die beiden Worte ja auch verwandt, es sind Gefühle, die beide „arges“ wittern.
Was hatte mein Interesse an dieser Frau geweckt? Sie war in gewisser Weise intellektuell und sprach mich optisch an. Das genügte anscheinend, um mich über ihre tatsächlichen Eigenschaften zu blenden, worauf ich gleich zu sprechen kommen will.
Mir fiel auf, dass sie einen sehr starken Hang dazu hätte, bestimmte Männer, die ihr besonders dazu geeignet schienen, zu demütigen, wenn sie nicht genau ihren Vorstellungen entsprachen – also eine Art sadistische Neigung gegenüber Männern.
Sie erzählte mir, dass ihre Mutter genau dieses Verhalten an den Tag gelegt hätte.
Ich begriff also intellektuell, dass sie einen Wiederholungszwang hatte – aber emotional begriff ich das nicht. Dabei gab es für ihren Wiederholungszwang noch andere Anhaltspunkte.
Ihre Mutter war vor ca. zwei Jahren an Tuberkulose gestorben. Sie erzählte mir, dass sie damals mit ihrer Mutter geatmet hätte, so als wolle sie durch ihren Atem den ihrer Mutter anschieben.
Im Januar diesen Jahres erzählte sie mir, dass sie plötzlich gewisse Symptome von Asthma entwickele.
Ich erkannte diesen Zusammenhang sofort, und versuchte ihr nahezulegen, sich Gedanken darüber zu machen, ob ihre Mutter wirklich so gut zu ihr gewesen sei, wie sie sich das einbildete.
Ihre Therapeutin hatte damals versucht, ihr Mutterbild, das sehr stark idealisierend war, zu korrigieren -zwar nicht so, wie Sie oder ich uns das wünschen würden, aber weil sich jene Frau so tief in der Verleugnung befand, war das schon zuviel für sie. Sie erzählte mir, dass ihre Mutter sie und ihren Bruder zwar „dann und wann“ mal schlecht behandelt habe – aber so what?
Stattdessen wandte sie sich der Verhaltenstherapie zu. Ich kann nicht umhin, Verhaltenstherapie als ein therapeutisches Verbrechen zu geißeln, dass -in ihrem Falle- vielleicht sogar lebensgefährliche Folgen haben kann. Denn wenn es ihr gelingt, mithilfe der Verhaltenstherapie ihre Verleugnung so zu vollenden, dass sie quasi zu ihrer verinnerlichten Mutter wird, könnte es vielleicht wirklich passieren, dass sich das beginnende Asthma zu einer Tuberkulose fortentwickeln wird und sie daran zugrunde geht. Dabei konnte ich mir so gut vorstellen, wie ihre Mutter wirklich gewesen war – nämlich so wie Ihre oder wie meine, eine faschistoide Frau. Deswegen hatte sie auch acht Jahre mit einem rechtsradikalen Mann verbracht, von dem sie sich emotional überhaupt gar nicht lösen konnte, aber auch nicht wollte.
An mir ließ sie ihre Aggressionen aus und verlangte Demut und Anbetung, auch verhielt sie sich gegenüber ihrem „besten Freund“ so, und berichtete mir auch ganz arglos über ihre Entrüstung, wenn er sich nicht untertänig und ehrerbietig genug gezeigt hatte.
Weil ich das alles auf der intellektuellen Ebene erkannte, versuchte ich mich dagegen zu erheben, so, wie ich mich in meiner Pubertät gegen das Regime meiner Mutter erhoben hatte, die meine Wut als „Hysterie“ und „Psychose“ bezeichnete. Wann immer mir also die Kränkungen, Provokationen, Demütigungen und Erziehungsversuche zuviel wurden, schrieb ich ihr eine Analyse ihres Verhaltens, in der ich ihr Verhalten durch die verinnerlichte Mutter erklärte.
Ich bekam zur Antwort, ich sei psychotisch und wolle sie nur verletzen, und auf einmal war die Verleugnung so perfekt, dass sie sogar abstritt, dass ihre Mutter überhaupt jemanden gedemütigt hätte.
Das Argument der Psychose für mein Aufdecken der Motive anderer Menschen und der Herkunft dieser Motive kannte ich ja schon von meiner Mutter, so dass mich das nicht beunruhigen musste.
Aber ich fühlte nicht, dass ich mir mit dieser Frau nur Kränkungen und Verletzungen ohne Ende zuziehen würde, wenn ich nicht den Kontakt zu ihr abbrechen würde. Es würde mir nicht gelingen, ihren Willen, die schreckliche Mutter weiter zu lieben, zu ändern. Es war auch nicht so, dass sie nicht hätte wissen können, dass ich recht hatte, sondern sie wollte leugnen, sie stand ja vor der Wahl, meiner Argumentation zu folgen und die Erlösung anzustreben. Zur Untermauerung meiner Thesen verwies ich auch auf Alice Miller und schickte ihr mehrere Artikel von ihnen – aber da war eine Mauer, durch die niemand durchkommt, eine Mauer aus Rationalisierungen. Meine eigene Kindheit begann sie auf eine geradezu kleinianische Weise auszudeuten, was mich betroffen machte, aber ich wollte immer noch wie Professor Higgins in George Bernard Shaws „Pygmalion“ der Eliza Doolittle Hochenglisch beibringen,
auch wenn Eliza Doolittle nicht wollte.
Zugleich war das alles ja mein Wiederholungszwang, das war mir klar, ich wusste nur nicht, warum ich ihn nicht durchbrechen konnte. Mein Argwohn verwandelte sich, weil ich ihn überhörte, allmählich in Symptome von Paranoia, so dass ich Schlafstörungen entwickelte. Nach einer durchwachten Nacht telefonierte ich mit ihr, und anscheinend war ich so übermüdet, dass ich meine intellektuelle Abwehr nicht mehr richtig aufrecht erhalten konnte. Sie tat das, was sie immer tat: predigen, erziehen, nörgeln.
Ich hörte nicht richtig zu, denn ich achtete auf ihren eigenartigen Husten,den sie inzwischen entwickelt hatte. Unterschwellig assoziierte ich:Asthmoider Husten – hysterischer Husten – die tuberkulöse Mutter.
Aber ich beendete das Telefonat trotzdem nicht. Bis sie mir sagte, dass ich ihrer Lebensfreude im Wege stünde und ihrer Feierlaune. Ich fühlte ein schmerzhaftes Ziehen unter dem linken Rippenbogen und kam endlich zur Besinnung, und realisierte, mit WEM ich mich da eingelassen hatte: diese Frau war absolut wahnsinnig. Ich verhielt mich, wie es mein introjizierter Vater verlangte: Omnia ad maiorem matris gloriam.
Mir wurde danach klar, dass all mein Werben um diese Frau gar nicht der galt, die sie war, sondern einem Imago, einem Phantasma – einer Frau, die sie überhaupt gar nicht war.
Sie sah in mir gar keinen aufgeklärten, autonomen Intellektuellen, sondern einen verzogenen Bengel, der doch partout bei seinen Eltern keinen Gehorsam gelernt hatte.
Sie teilte nicht meine Ansicht, dass Gleichberechtigung, gegenseitige Achtung und Wertschätzung, Ernstgenommenwerden, und nicht Ausbeutung, Machtgefälle, Unterdrückung, Manipulation menschliche Beziehungen bestimmen sollen. Sie teilte auch nicht meine Ansicht, dass eine Aussage nicht schon einen Wert besitzt, wenn eine Autorität sie ausgesprochen hat.
Sie hielt mein bedingungsloses Eintreten für Humanismus und echte Autonomie für eine Krankheit!
Für sie war ich ein trauriger Borderliner, „viel kränker“ als sie, und ich bin sehr froh, dass es die ganze Zeit über bei einer platonischen Bekanntschaft zwischen mir und ihr geblieben ist, denn diese Frau wäre imstande gewesen, mich ansonsten vielleicht irgendwann mit in den Strudel ihrer Verleugnung zu reißen. Sie kritisierte ihre Therapeuten nicht -wie ich zuerst annahm- für die Ermunterung, den Eltern zu vergeben und so weiter, sondern dafür, dass sie ihr überhaupt nahelegten, die Kindheit wenigstens etwas zu reflektieren.
Mich betrübt das alles sehr, und ich glaube, dass sich alle meine Kassandrarufe erfüllen werden:
dass sie zu ihrem Ex-Mann zurückkehren wird, dass ihre Verleugnung sich vertiefen und zu Krankheiten ohne Ende führen wird. Ich bin auch sehr betrübt, dass ich erst so spät die Sinnlosigkeit meines Tuns erkannte, dass ich nicht genügend Vertrauen in meine introspektiven Fähigkeiten hatte.
Ich hatte versucht, einen Stein, der ins Wasser geworfen wurde, herauszuholen, anstatt mir einfach einen anderen Stein zu suchen.
Erscheint ihnen das, was ich schreibe, logisch und richtig?
Mit den besten Wünschen an Sie beide, C. S.
AM: Das Tragische am Wiederholungszwang ist unter anderem, dass die panische Angst des inneren Kindes vor dem ersten Bezugsobjekt (der grausamen Mutter?) uns zwingt, die Mutter vor der Wut des kleinen, ohnmächtigen Säuglings zu schonen, damit sie uns nicht umbringt. Doch je bewusster wir werden, umso bewusster wird uns diese einst verdrängte, einst so gefürchtete Angst, die jetzt erst ERLEBBAR ist, weil die tödliche Gefahr nicht mehr besteht. In den neuen Beziehungen kann es geschehen, dass unsere Urteilskraft noch leidet, solange wir diese Beziehungen brauchen, um die ursprüngliche Angst vor der Mutter durchzuarbeiten. Aber Sie sind ja dran, wie Sie schreiben. Und Sie werden sich von diesem Wiederholungszwang ganz befreien, sobald Ihre panische Angst vor der Mutter sich abschwächt (weil Sie sie erlebt haben) und Sie die gegenwärtige Bekannte von ihrer doppelten Rolle befreien können. Dann können Sie sich wehren, können ihr Ihre wahren Gefühle zeigen, sind nicht mehr ohnmächtig und brauchen Ihre Wut nicht zu verstecken. Sie brauchen diese Person nicht zu hassen, weil Sie nicht von ihr wie von der Mutter abhängig sind, aber auch nicht zu lieben, weil diese Frau Sie offenbar nicht versteht und Ihnen überhaupt nicht gewachsen ist. Ich habe den Eindruck, dass Sie bereits auf dem Weg sind zu diesen Lösungen, daher der Titel Ihres Briefes. Aber vergessen Sie nicht, dass die an Ersatzobjekten erlebte Wut nicht wirklich befreiend ist, solange sie durch die Verwechslung mit der Mutter ungerecht, daher verwirrend und unaufgelöst bleibt. Die heilsame Wirkung hat nur die BERECHTIGTE Wut, die Wut am Objekt, das diesen Zorn des Kindes voll und ganz verdient hat.