Das Ungeheuer

Das Ungeheuer
Monday 12 October 2009

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Liebe Frau Miller,

jetzt bin ich mit einem neuen Text fertig. Er heißt: das Ungeheuer. Nachdem ich fertig war, ist mir das englische Wort prodigy eingefallen. Es geisterte immer wieder einmal in mir herum, weil ich den Sinn nie richtig verstand. Ich habe ihnen am Telefon mal gesagt, dass mir das Englische oft sehr hilfreich ist, beim Verstehen von Gefühlen über den Kontakt mit Worten. prodigy bedeutet Ungeheuer, aber auch Wunder, und als infant prodigy, bedeutet es Wunderkind.

Wenn ich Ihnen zuviel Text schicke, müssen Sie es sagen. Ich freue mich ja, wenn Sie die lesen.

Das Ungeheuer

Du bist der Geist und das Gespenst

du bist der Geist der Gleiches tut

du bist die Mutter die dich erschreckt

zu Tode ängstigt. Du bist deine Mutter

die seelenruhig zusieht wie du fällst.

Halt fest den Augenblick.

Du siehst dich selbst in dieser Kälte

jetzt. Gefangen von der eignen Sicht

der Schmerz wird jetzt vergehen.

Siehst du wie kalt die Sicht der

Dinge ist? Wie kalt die Dinge sind?

Wenn sie, NIE stumm, NIE still auf deine

Schmerzen sieht, als wärest du aus Holz.

NIE still und

ungeregt sie auf dich

sehen kann, wenn du

„dir weh getan“

hast. Wie stumm

und ungeregt sie sich

erinnern kann.

Wie still sie selber werden

kann. Wenn sie dir

zusetzt, wie du fällst,

wenn sie dir aufhilft dann,

wenn sie so tut,

als wäre nichts gewesen,

wenn sie den Schmerz

der dich zerreißt verdrängt und dir

schon wieder eine Geschichte erzählt,

die nichts mit dir zu tun hat.

Sieh zu

wie sie dich verdrängt,

wie du dich selbst

wie du sie jetzt verdrängst,

wie du nicht fühlen kannst

wie sie dich ignoriert

wie ihre Blindheit jetzt,

die Blindheit auch verlässt,

für deinen eignen Schmerz

wie Sie dir scheinbar hilft, mit ihrer Blindheit

Sicht auf deinen nur von dir gefühlten Schmerz

wie Sie dir zeigt, dich lehrt was Blindheit kann.

Den Schmerz zu ignorieren. Wie Sie das tut,

und ohne eine Hast, wie sie dich übersieht,

jetzt ohne Hast, wie sie dich in den Schmerz,

der nur in dir, dich übersieht,

als wären deine Schmerzen Geister

als wäre deine innere Welt jetzt ein Gespenst

als wäre dein Gefühl nicht wahr

weil Sie nichts davon spürt und sieht.

Sie sieht nicht

dass du leidest.

Das ist das Schreckliche.

Sie sieht es nicht und spürt es nicht.

Ihr Blick ist jetzt

vereist NUR für den Schmerz. Jetzt macht sie einen Witz und lacht, und sieht dich an

als wäre nichts gewesen.

Da war auch nichts für sie,

da ist kein Ähnliches in ihren Zügen. Sie sieht dich nicht. Du lernst jetzt ihren Blick, der Schmerzen übergeht, der nichts dergleichen fühlt, erkennbar fühlen tut in diesem Augenblick wie du. Denn du bist tief gefallen, eine ganze Treppe tief und unten angekommen. Jetzt liegst du schief. Sie hält dich hoch, als wäre nichts passiert und tut so schnell, dass du schon nicht mehr weinen kannst, so abgelenkt wirst du. Sie sagt etwas, dann tut sie wieder anderes, sie ruft, sie blickt mit ihren Augendeckeln, sie lächelt, blödelt dich hinweg,

zeigt dir die Blumendecke.

Schön!

Sieh!

Zeigt dir

den Teppich mit den Fransen

zeigt dir das Fenster auch

zur Straße wie viel Verkehr

schon um die Zeit

wie viele Menschen

sagt sie, jetzt schon wieder auf der Straße

sind wie viele schon zur Arbeit gehen.

Sie zeigt dir alles aus der Welt

um nicht mit dir den gleichen Schmerz

zu teilen

Sie teilt dir alles was sie sieht

in kleine Happen ein, sie füttert

dich mit ihrem Sehen, Blick, sie lenkt

dich abermals dann in die Ecke, was alles

es doch gibt, da liegt

ein Tuch mit Blumen reich bestickt

ein Schuh von deinem Vater,

da ist ein Bändchen das sie liebt

ein Rosenkranz der eignen Mutter,

sie lächelt sanft, wenn

sie erzählt, wie schön es heute ist,

wie schön doch heute

wieder Sonne scheint. Da ist ein Band

mit bunten Fäden, das glitzert so,

das nimmst du jetzt, sie gibt es dir

zum Spiel,

du schluckst und deine Tränen fließen,

du sagst kein Wort, du schluckst und

schluckst jetzt weniger. Du hältst

das Band und siehst es an. Sie ist jetzt still.

so froh, dass deine Tränen jetzt versiegt

das Ende deines Weinens.

Sie lächelt und

verstummt. Das ist es was du

lernst. Du lächelst und verstummst,

so wird es wieder gut. Du lächelst und

verstummst. So geht der Schmerz

vorbei. Du lernst das alles

ohne Mühe.

Wenn jede Reaktion auf die Schreie eines Kindes und sein Aufwachen, nur Kälte evozieren (hervorrufen + bewirken), wenn jede Reaktion der Mutter auf den Wunsch des Kindes, und besonders auf den Schmerz, nur immer wieder Kälte evoziert, in ihrer Art und Weise, nur ablehnend und abweisend auf das Kind. Wenn jede Art der Näherung und Annäherung, des Näher Kommens aus der Fremde, von fern, (für ein Kind ist der nächste Raum, ein Niemandsland, ein leerer Raum die Wüste mit der gleichen Ausdehnung wie die realen Wüsten) nur Kälte evoziert. Wenn jede Reaktion Abneigung ist für den Schmerz. Wenn jede Reaktion auch dann noch, wenn das Kind darunter leidet, dass die Reaktion der Mutter Kälte ist, wieder Kälte ist, wenn nichts die Reaktion der Mutter lindert, wenn nichts die Mutter je erwärmt, ist Kälte alles was das Kind erfährt von dieser Frau. Es lernt auch unter Schmerzen Kälte kennen. Die Mutter ist nie warm, auch unter Fieber nicht. Das Kind lernt keine Krankheit kennen an seinem Leib, bei dem die Mutter sich erwärmt und keinen Schmerz, der in den Augen seiner Mutter Gnade findet. Der groß genug ist, passend genug ist um

eine andere Reaktion als Kälte hervor zu bringen. Das Kind verzweifelt an der Kälte und seinen Schmerzen. Dass nichts erweicht.

Es lernt die Härte dieser Kälte, die kalte Schulter kennen, dass ganz egal, was dieses Kind auch hat und fühlt, dass NICHTS die Mutter näher bringt. Egal was dieses Kind auch tut und schenkt, egal wie schön dieses Kind in der Schule auch schreibt, oder welche Geschichten es sich später auch ausdenkt, für die Mutter. Egal welch gruselige Geschichten das Kind der Mutter auch erzählt. Im Gegenteil, das will die Mutter gar nicht hören, egal wie sehr das Kind auch Kälte gelernt hat und wie sehr das Kind auch der Mutter jetzt in seiner Kälte ähnelt, in seinen Kältereaktionen, und der Mutter mit Kälte begegnet, auch dann begegnet die Mutter dem Kind nur mit Kälte, selbst dann kommt die Mutter dem Kind nicht entgegen. Das ist sehr verwirrend für das Kind, dass die Mutter es noch nicht einmal mag, wenn das Kind wie die Mutter ist, und dass die Mutter gerade darin, in dem, was das Kind macht und tut, sich nicht selbst erkennt. Dass die Mutter auch dagegen, gegen die eigene abgebildete, nachgeahmte, gespiegelte Kälte, nur mit Kälte reagiert. Dass die Mutter sich anscheinend nicht einmal selbst erkennt. Oder nicht erkennen kann. Dass die Mutter auch gegen sich selbst völlig blind ist.

Nichts erweicht das Herz der kalten Frau. Das einzige, das diese Frau erkennt und das in ihr die Scheu und Angst erweckt, das ist Verachtung, ihr gegenüber offen ausgetragen.

Ich wünschte, du würdest es nicht so zeigen, dass du mich nicht magst, sagt sie und dreht sich weg.

Dann kann es sein, dass dieses Kind vereist und selbst zur Kälte wird. Dann sieht das Kind wie kalt die Welt zwar ist, in allem was sie tut, doch seine eigene kalte Welt, die das Kind der Umwelt mit seinem Verhalten zeigt, die fühlt es nicht. Es ist so kalt wie jene kalte Mutter, von der das Kind die Kälte lernen musste. Die Mutter hat es ihm beigebracht, wie es auf Tränen und Schmerz und Sorge und Kummer und Trauer und schließlich verzweifelte Wut reagieren muss: Mit Kälte, mit nichts anderem als Kälte in der Stimme, in der Art und in der Weise ihrer Schritte, wie sie geht, und stampft, wenn sie dein Weinen stört. Wenn sie gelaufen kommt, damit jetzt endlich Ruhe herrscht. Was ist denn jetzt schon wieder los. Du kennst die Schritte, die sie macht, wenn ihre Wut auf deine Wut trifft. Wie sie erschrickt, von selbst und dich dann anschreit, voller Angst, dass du gefälligst still sein sollst. Sie bringt mit ihrer Wut und Angst vor deiner Wut und Angst, dann deine Wut und Angst zum Verstummen. Du lernst die Angst und Wut jetzt zu verstummen, und deine Wut und Angst jetzt zu beherrschen. Du tust wie sie es tut. Du schaust dir alles ab. Sie geht den Weg, den sie dir zeigt. Sie geht den Weg der Kälte.

Wenn du nicht fühlen kannst, was dir in deiner Kindheit widerfahren ist und was du dort erlitten hast, bist du dazu verdammt das alles nachzuahmen und zu wiederholen. Du wirst Ungeheuerlichkeiten und Verbrechen mit der gleichen Kälte begegnen, die dir und deinen Schmerzen, hervorgerufen durch die Ungeheuerlichkeiten und Verbrechen, entgegengebracht worden ist. Du wirst der Kälte mit Kälte auch begegnen, und ohne es zu spüren. Ein Kind, das in der Kälte aufwachsen musste, lernt ausschließlich Kälte. Ein Kind, das allein in der Wüste aufwächst, lernt nur Einsamkeit und Leere kennen. Dieses Kind lernt keine Liebe kennen. Dieses Kind kann nicht zwischen Liebe und Kälte unterscheiden. Es hat keine Wahl. Dieses Kind kann nicht wissen was Liebe und Zuneigung ist.

Der Stachel im Fleisch ist die eigene unter Schmerzen angelernte Ungeheuerlichkeit und Kälte. Dieser Stachel hört nicht eher auf weh zu tun, bevor die Ungeheuerlichkeit nicht als solche von dir erkannt worden ist. Bevor du nicht vor deiner eigenen Kälte stehst und dieses Kind, das du einmal gewesen bist, verstehen lernst in seinem Schmerz.

Solange DU das Ungeheuerliche nicht erkennst in dir, solange schreckst du zurück, in Angst vor seinem Auftauchen. Die Angst des kleinen Kindes ist noch in dir und du erschrickst im Grunde vor jenen, die jenen Schrecken einst in dir verursachten. Denn diese Angst ist wach vor jenen Menschen, die dir geschadet haben.

Das Kind versucht die Wut zu rechtfertigen, weil DU nach einer Rechtfertigung, noch immer nach einem WARUM des Vaters suchst. Du wartest immer noch auf Antwort.

Du brauchst deine Wut nicht zu rechtfertigen, das ist schon gut, dass du jetzt endlich wütend bist, dass du so wütend bist, nach all den Jahren, und ohne einen Funken Reue; die Wut des alten Kindes.

Solange du nach dem Warum, des Vaters für sein Schlagen, und die sadistischen Spiele deiner Mutter, nach einem Grund gefragt hast, wollte jene Wut des kleinen Kindes nicht kommen. Jene ungehegte, die ungebändigte, natürliche Wut des Kindes ohne Helfer.

Du brauchst für deine Wut jetzt keine Prügelknaben mehr, du siehst dich selbst in seiner Haut und ihren Augen, wie er dich immer wieder schlagen wird, solange du nicht endlich Ruhe gibst, bevor du nicht aufhörst, ihn zu provozieren, solange DU nicht Ruhe gibst, ihn mit deiner kalten Schulter zu provozieren. Er schlägt die Kälte aus dir raus, und du vereist, und wirst noch kälter, das ist der einzige Rückhalt der dir noch verblieben ist, die Kälte deines Herzens, wo niemand ist, auch du nicht mehr, wo keine Wut mehr wohnt, wo alles kalt ist, leer und ohne Hoffnung.

Der Vater schlägt dich nur für sich.

Du brauchst für deine Wut nicht kämpfen. Du brauchst sie nicht begründen. Dein Körper kennt den Grund genau, den zugefügten Schmerz, den wiederholten und immer wieder wiederholten Schmerz, der deinen Mut zertrümmert hat wie einen Stein, der langsam aber sicher alles in dir, was sich noch wehren konnte zerschlagen hat; der Vater mit der eisernen Faust. Er hat dich, nachdem er dich geschlagen hat, vor seine Wahl gestellt.

Wer glaubst du wohl, wird dir je helfen, außer wir. Wer glaubst du wohl, hat jemals mir geholfen. Das alles was ich habe, habe ich ganz allein mir selbst zu verdanken. Und niemand sonst. Wer glaubst du, wer du bist? Niemand wird dir je helfen! Mir hat auch nie jemand geholfen. Ich war immer allein. Ich musste mir auch immer alles selbst beibringen. Mir hat nie jemand geholfen. Alles was ich habe, habe ich ganz allein mir selbst zu verdanken. Die anderen kümmern mich nicht. Warum soll ich mich um andere kümmern, die anderen kümmern sich doch auch nicht um mich. Die haben sich doch auch nie um mich gekümmert. Im Leben wird dir nichts geschenkt. Alles was ich habe, habe ich ganz allein mir selbst zu verdanken.

Dann schlägt er zu.

Du suchst nach Gründen für dein Leid?

Wer Gründe sucht, der gibt dir immer Schuld. Für jedes Leid gibt es den Schmerzensgrund. Für Schmerzen ja. Für Leid sind Menschen zuständig. Das Leid ist Menschenwerk. Wer nach übergeordneten Gründen für dein Leid sucht, lenkt dich weg, der stellt dir die Frage: Was glaubst du wohl, warum deine Mutter dich nicht in Ruhe gelassen hat?

Wer diese Frage stellt, der lässt das Kind allein in seiner Not. Der schickt es noch dazu in eine Fremde, wo es allein nun suchen soll, nach einem Halt, dem Anlass für sein Leiden. Das Kind soll sich versuchen. Es soll solange suchen, wie es geht, auch bis ans Ende jeder Welt. Das Kind soll seine Gründe suchen, und die der Täter auch. Das Kind soll seine Schuld begreifen. Dies ist die wohl hinterhältigste Methode um ein Kind die Wut zu vermasseln, zu vermiesen, madig zu machen; zu verderben. Das Kind muss nach Gründen für sein Leid, nach Ursachen hinter den offensichtlichen Ursachen suchen. Das Kind muss nach „Endursachen“ suchen. Es reicht nicht, dass das Kind sagt: Vater hat mich geschlagen. Jemand fragt das Kind und ignoriert die Ungeheuerlichkeit und die Feigheit, das Verbrechen des Erwachsenen und fragt das Kind nach den Gründen des Missbrauchs.

Wer einem Kind die Frage nach dem Warum seines Leids stellt, der verbietet Tränen und auch Weinen um der geschlagenen Kinder Willen. Der räumt das Recht auf Unschuld aus der Kinderseele. Der will die Wut auslöschen. Der stellt auch Wut in Frage. Warum bist du so wütend, fragt unentwegt die Heilige/der Heilige. Die Frage nach seiner Wut, nach seinem Warum, setzt das Kind immer ins Unrecht und mit ihm seine Wut. Die Frage nach der Rechtfertigung der Wut, verhindert die Wut. Warum lebst du? Nur weil dich dein Vater leben lässt. Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Eine aussichtslosere Sicht auf das Leben gibt es nicht. Du lebst nur, weil ich dich leben lasse. Wer das Kind nach Gründen seiner Wut befragt, verhindert seine freie Willensäußerung und seine Fähigkeit zum Mut, gegen das zu sein, was ihm weh tut und gegen denjenigen zu sein, der ihm weh tut.

Das Leid, von anderen gegen das Kind verursacht, ist keine Krankheit, nichts Unsichtbares. Wer die Wut ohne wenn und aber des Kindes, seine natürliche Reaktion gegen das Leid missachtet, nimmt dem Kind sein einziges Mittel zur Gegenwehr. Der bedeutet diesem Kind, dass es sich nicht wehren darf, bis es die Gründe für seine Wut nicht kennt. Das Kind soll seine Wut allein erforschen. Es soll sich selbst erforschen. Dies ist die verschleierte Frage nach dem Sinn des Daseins. Das Kind, das seine Wut rechtfertigen muss, ist von Anfang an, ohne dass es das weiß, mit der Frage nach seinem Sinn, nach seinem Daseinsgrund beschäftigt. Das Kind muss seine Existenz rechtfertigen, weil es sein Tun und So sein rechtfertigen soll. Dieses Kind verzweifelt an der Frage nach seinem Lebens und Daseinsgrund. Dieses Kind war nie willkommen. Wer die Frage nach dem Grund der Wut stellt, errichtet ein Fundament, von dem aus er die Wut vereiteln lernt. Das Kind, das sich jetzt selbst andauernd fragt, warum es wütend ist, baut sein Fragen immer weiter aus, bis es die Wut, den eigentlichen Grund aus dem natürlichen Sinn verliert. Ein Kind, das die Wut verliert, verliert den natürlichen Schutz; dieses Kind ist später auf Schutzbehauptungen angewiesen. Dieses Kind redet dann über Wut und Hass, ohne diesen Hass und diese Wut, die dahinter steckt auch zu fühlen. Weil die vielen Gründe für die Wut, jetzt der Wut im Wege stehen. Wer die Wut verbietet, der verbietet Zorn. Der vergibt sich selbst nicht mehr. Denn der Zorn hält alles fest, was nicht niet und nagelfest ist. Der Zorn vereint die Fähigkeit zu Traurigkeit und zu Wut zugleich.

Der Zorn vereitelt die Trauer?

Wut hilft über Traurigkeit hinweg. Hilft dir über den Verlust hinweg. Die Wut vertröstet nie. Die gute Wut, die hilft dir stets zu sehen, jetzt ganz klar, wer Gutes für dich tut, wer nicht.

Die gute Wut sieht immer alles klar und wirklich, einfach. Die Wut ist deine Sicht auf das Böse das dir widerfährt und dem du ohne Wut allein ausgeliefert bist. Die Wut ist in dir, als etwas Angeborenes, das deinen Lebenswillen stärkt. Wer die Wut auslöscht, zerstört den Lebenswillen. Das Recht auf Freiheit und individuelles unabhängiges Dasein. Tyrannen und Unterdrücker zerstören als allererstes die Wut und somit das Vermögen des einzelnen für sich ein zu stehen und sich zu wehren.

Wer die Frage nach dem Sinn des Leids stellt, verhindert die Benennung der Ungeheuerlichkeiten und die Empörung darüber. Was ist denn Wut anderes, als der Schrei der Seele. Die Empörung über zugefügtes Leid. Wer die Wut erklärt, und wer die Wut erfühlt, der zeigt in die Richtung des Ungeheuerlichen, der erkennt das Ungeheuer selbst.

Das Ungeheuer will dir weismachen, dass deine Gegenwehr keinen Sinn hat, dass du aufhören sollst zu schreien, dich zu wehren. Du kannst jetzt schreien und dich aufregen wie du willst. Das nützt dir alles nichts. Der will dir deine Wut ausreden und sinnlos werden lassen. Der macht dir deinen Sinn für deine Wut kaputt. Der redet ununterbrochen, dass es für dich keinen Sinn hat sich zu wehren. Das Kind verzweifelt jetzt an seiner Wut und hört jetzt auf zu Wüten.

Der Erwachsene stellt heute fest, dass der Vater damals, ohne es zu wissen, und das Kind erkannte es erst recht nicht, weil es nur Augen für seinen Schutz und seine Rettung hatte, etwas über die eigene Vergangenheit berichtete. Dass der Vater damals ununterbrochen mit sich selbst geredet hat, mit dem Kind, das er einmal gewesen ist. Dass der Vater sich die eigene gute Wut ausgeredet hat, während er blind auf das Kind schlug, und so seine eigene blinde Wut rechtfertigte. Sein eigenes Schlagen und Geschlagen werden. Dass dieser Vater sich mit Worten an den Sohn wendet, die er als Junge hat hören und fühlen müssen, auch unter Schlägen.

Das Kind vereist.

Dieses Kind lernt niemandem zu helfen und von niemandem Hilfe zu erwarten. Dieses Kind ist hoffnungslos. Dieses Kind wurde hoffnungslos und wehrlos gemacht, weil seine Wut vor seinen Augen sinnlos, und auch vor aller anderen Augen sinnlos gemacht wurde. Das Kind musste seinen Augen trauen. Die Mutter stand daneben und wendete sich ab. Sie sagte dann: Nun hör doch endlich auf. Sonst schlägt er dich noch tot.

Die Mutter fordert das Kind auf, die Wut einzustellen und zu vereisen.

Sage, dass es dir leid tut. Du musst auch deinen Vater verstehen.

Es ist ein Glück, dass das Kind dies heute sehen kann. Mit seinen Augen und auch fühlen kann, wie ihm einst geschah. DU, das Kind sollte und musste seine Wut rechtfertigen, während deine Eltern nichts von alle dem, was sie dir antaten je rechtfertigten. Wenn es einen Beweis für die Unschuld eines Kindes, des Kindes überhaupt gibt, dann diesen. Das Kind hat sich jetzt für sich selbst gerechtfertigt, es ist seiner gefühlten und von seinen Eltern in es gesteckten Schuld nachgegangen bis an den Anfang. Dieses Kind hat sich vergeben und seine Wut neu entdeckt, den Schutz den es von Natur aus hatte. Den Instinkt für sich zu sorgen, mit seiner Wut, so gut es eben geht.

AM: Es ist Ihnen wieder ein sehr starker Text gelungen. Ich hoffe, dass er auf andere so stark und direkt wirkt wie auf mich, aber vermutlich andere Assoziationen weckt. Daher möchte ich keinen Kommentar dazu schreiben, möchte niemanden mit meiner Sicht beeinflußen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet