Sie haben dem Kind seinen Körper gestohlen

Sie haben dem Kind seinen Körper gestohlen
Tuesday 03 November 2009

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Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
die Leserbriefe “wenn ich verriet, was mir gefiel“ und “Das Ungeheuer“ haben mich daran erinnert, dass wir nur zwei Möglichkeiten haben, die Erste war die unbedingte Erfüllung der Anforderungen und Wünsche unserer Eltern (Fügsamkeit/Anpassung/Verzicht auf eigene Bedürfnisse/ Selbstverleugnung (…) der Lohn dafür war
“Anerkennung“ und “Liebe“ für unser FALSCHES SELBST, das war nur geheuchelt, noch nicht einmal echt. Das alles hinterließ Leere, Trauer und Hoffnungslosigkeit. Ja, diese Briefe sind erschütternd, aber sie vermitteln
nicht das Gefühl von Hoffnungslosigkeit sondern zeugen von dem außergewöhnlichen Mut und der Kraft eines
Kindes, die Kraft einer Seele, die aller Unmenschlichkeit zum Trotz, überleben konnte.

Im Childhoodforum schrieb mir eine Teilnehmerin, wie sie als ca. 2jähriges Mädchen zum Essen gezwungen werden sollte, jedoch den Mut aufbrachte, ihren Teller immer wieder beseite schob, ihn sogar abräumte und ihr Vater sie deshalb geschlagen hatte. Damals schrieb ich an sie: “Du warst auf jeden Fall sehr mutig gewesen, schon allein wenn man den Größenunterschied dabei bedenkt! Zwei große Erwachsene gegen ein kleines Mädchen und wenn man Deinen Willen nicht gebrochen hätte, dann wärst Du ein sehr starkes und selbstbewußtes Mädchen geworden, die genau weiß was sie will. Darauf kannst Du aufbauen und damals hattest Du keine Chance gegen Deine Eltern zu gewinnen, sie waren zu zweit, übermächtig und Dir vollkommen über-
legen und als ich las wie Dein Vater Dich geschlagen hat, da war ich innerlich empört.“

Dieses Gefühl der Empörung hatte ich auch beim Lesen beider Briefe und ich bin sehr froh, dass Sie diese beiden Briefe veröffentlicht haben, sie zeigen die Perspektive eines kleinen Kindes in einer Familie in der
eine schwere seelische Abartigkeit, unvorstellbarer Sadismus herrschten, eine harte Realität die zu ertragen eigentlich unmöglich scheint und dennoch, die Berichte zweier Überlebender zeugen von ungewöhnlichem Mut sich zu wehren, zu überleben und sogar dem Mut aufzubringen, dieses Grauen zu beschreiben und sich anderen
Menschen mitzuteilen.

Im Childhoodforum schrieb ich: “Es ist schlimm essen zu müssen wenn man nicht möchte, denn es ist ja auch dein Körper und das Essen ist ein ganz ureigenes Bedürfnis des Körpers und wie soll sich ein Kind entwickeln und zu sich Vertrauen finden, wenn man ihm sogar dieses ureigenste Bedürfnis nicht zugesteht, ihm das ganz einfach wegnimmt? Wie soll sich ein Mensch später abgrenzen, wenn doch die eigenen körperlichen Bedürfnisse vor den willkührlichen Zugriffen der Eltern nicht geschützt waren, geschweige denn anerkannt oder berücksichtigt wurden? Wie soll ein Mensch selbstsicher werden, wenn ihm als Kind sein eigener Körper “nicht gehören durfte“, so habe ich es mir später aus der Sicht eines Kindes immer vorgestellt. Deine Eltern dürfen alles mit “deinem Körper machen“, ihn schlagen, ihn einsperren, ihn kleiden “wie sie es wollen“, zur “Nahrungsaufnahme“ zwingen (…) ich gehöre denen, mein Körper gehört denen, sie wissen besser als ich was ich will, sie nehmen mir meine Wut weg, sie nehmen mich überhaupt nicht wahr, woher wissen die immer besser was ich weiß(…)? Denke ganz oft an das kleine mutige Mädchen und wenn Du an Dir zweifelst, dann stelle sie Dir in Gedanken vor und dann weißt Du auch, dass Du sie in Dir wiederfinden kannst.“

Ich möchte mein Mädchen wiederfinden und wenn ich das versuche, dann ist das die zweite Möglichkeit die wir haben, nämlich die Erfüllung der Anforderungen an uns selbst, die Beachtung unserer eigenen Bedürfnisse und die Suche nach unserem wahren Selbst, wenn wir das finden, dann können wir uns selbst lieben und auch andere Menschen und unsere eigene Familie (Partner, unsere Kinder) schätzen uns für das was wir wirklich sind!
Hochachtungsvoll ML

AM: Sie schreiben: “Wie soll ein Mensch selbstsicher werden, wenn ihm als Kind sein eigener Körper “nicht gehören durfte“, so habe ich es mir später aus der Sicht eines Kindes immer vorgestellt. Deine Eltern dürfen alles mit “deinem Körper machen“, ihn schlagen, ihn einsperren, ihn kleiden “wie sie es wollen“, zur “Nahrungsaufnahme“ zwingen (…) ich gehöre denen, mein Körper gehört denen, sie wissen besser als ich was ich will, sie nehmen mir meine Wut weg, sie nehmen mich überhaupt nicht wahr, woher wissen die immer besser was ich weiß”. Das ist genau, was die meisten von uns erfahren haben: man hat uns den Kompas weggenommen, der im Körper sitzt. Später kann dieser nur in der Sprache der Krankheiten reden, aber da weigern sich alle, die Ärzte und oft wir selber, diese Sprache zu verstehen, wie es die Eltern taten. Es ist sehr wichtig, was Sie hier geschrieben haben, es braucht oft enorm viel Kraft und Mut, um sich von diesem Raub des Körpers zu befreien und sich ihn wieder zu erobern, von ihm seine Sprache zu lernen und sich so – endlich – von ihm helfen zu lassen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet