Briefe an die Eltern

Briefe an die Eltern
Monday 07 May 2007

Liebe Alice Miller und Team,

schon einmal habe ich mich an Sie gewandt und möchte berichten, wie es mir ergangen ist. Ich lese Ihre Seite regelmäßig und finde mich dadurch sehr unterstützt. Ich danke Ihnen.
Das Thema – an die Eltern schreiben – berührt mich sehr. Ich habe das im Rahmen meiner Therapie und als Ausdruck meiner tiefen Empörung über all die Schläge und all den Mißbrauch, die ich als
Kind erdulden mußte, getan. Es ist mir sehr sehr schwer gefallen, ich habe an diesem Brief mehrere Monate geschrieben. All die Wahrheiten, die mir in der Arbeit mit meiner Therapeutin klar wurden, und die ich zuvor noch nie gewagt hatte zu denken, denn zu schreiben und mitzuteilen. Meine Mutter hat mich nicht lieben können, ich war das Aschenputtel oder die Pechmarie, leider ohne märchenhaften Ausgang. Zu guter letzt hat sie mich vor 2 Jahren rausgeschmissen und nie mehr Kontakt gesucht. Ich bin die Schlimme!
Ich nahm den fertigen Brief zu meiner Therapiesitzung mit, denn ich wollte ihn dort vorlesen. Ich konnte es nicht, mir blieb die Stimme weg und ich weinte. Es war mir unmöglich. Dann hat meine Therapeutin ihn laut gelesen und ich habe ihn danach aufgegeben. Es folgte ein
Wochenende voller körperlicher Schmerzen, ein Ring um die Brust schien mich zu erdrücken und ich konnte nicht atmen. Wenn ich vor die Tür ging, um nur den Müll rauszubringen, fürchtete ich, meine Mutter oder andere ihr verbundene Verwandte, besonders meine Schwester und ihr Mann, kämen um mich umzubringen. Diese Gefühle hielten lange an und heute, ein halbes Jahr später, sind sie sehr abgeschwächt, aber immer noch da.
Meine Angst sagt: was hast Du gemacht, wie kannst Du Deine Mutter und Deine Schwester so beschuldigen? Du bist eine Verräterin und nichts wert! Auf der anderen Seite weiß ich, wie ich verprügelt wurde, ans Bett gebunden und mißbraucht wurde. Ich fürchte auch nach diesem Erlebnis mit dem Brief als Kind einen Tötungsversuch überlebt u haben. Und es so zu benennen scheint mir schon wieder als Verrat.
Meine Schwester fand ich einmal im Bett meines damaligen Mannes, ich hab es hingenommen, er sagte, ich solle mich nicht so anstellen. Mit ihr habe ich nicht gewagt es anzusprechen. Aber auch das habe ich in dem Brief genannt und benannt: ungeheuerlich! Seitdem hat auch sie den Kontakt abgebrochen.
Als ich dann über meine Kinder hörte, daß meine Mutter sehr schwer erkrankt im Krankenhaus sei, habe ich sie kurz angerufen, um ihr gute Besserung zu wünschen. Sie sagte nur Danke, hat sich später erholt, nie den Kontakt gesucht. Das Alles tut immer noch sehr, sehr weh und ich kann diese schwere Zeit nur im Ausleben meiner Eßsucht aushalten.
Das zu lassen, um mich nicht selbst weiter zu schädigen, ist mein Ziel.
Vielen Dank fürs Lesen.

R.S.P.

AM: Vermutlich hat das Kind in Ihnen immer noch schreckliche Angst vor Ihrer Mutter, die Sie umbringen wollte. Diese Angst hinderte Sie, den Brief selber vorzulesen, und diese Angst scheint Sie immer noch zu verfolgen. Versuchen Sie Ihren Brief in der Therapie doch noch laut vorzulesen, um als Erwachsene diese Angst bewusst zu erleben, in der Gegenwart Ihrer Therapeutin, von der Sie sich geschützt und verstanden fühlen. Vielleicht werden Sie dann auch den Mut bekommen, die Wut zuzulassen. Mit dem Wegschicken des Briefes ist ja noch nichts getan, wie Sie sehen, nichts bewältigt. Nur das Erlebnis der Angst und der Wut wird Sie von Ihrer Mutter befreien und auch von der Erwartung, Liebe und Verständnis von ihr zu bekommen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet