Gruß aus Zürich

Gruß aus Zürich
Thursday 31 January 2008

Liebe Frau Miller

Es macht mich sehr traurig und ich bin bestürzt, dass Ihre Erkenntnisse, die Sie seit dreissig Jahren veröffentlichen, vom Gesundheitswesen und von der Allgemeinheit nicht in ihrer Bedeutung wahrgenommen und ins gesellschaftliche Zusammenleben integriert werden.
Es ist nicht nur die Trauer und das Leid über meine eigene schlimme Kindheit und Jugend, die ich durch Ihre Veröffentlichungen entdeckte. Es ist auch das nun wachsende Bewusstsein für die verborgenen Mechanismen unserer ganzen Kultur!

Als ich vor einem halben Jahr in einer schweren Adoleszenzkrise feststeckte, machte ich mich auf die Suche nach Hilfe. Eher zufällig stiess ich auf Ihre Website und den Text ‘Abschied von den Eltern’ von Thomas Gruner. Beim Lesen des Textes brachen die Erinnerung meiner Vergangenheit mit solch einer Intensität über mich herein, dass ich schliesslich in die Psychiatrie gebracht wurde.
Da ich bis zu meiner Krise ausschliesslich in extrem religiösen Kreisen im Ausland Zuhause war und nun furchtbar erleichtert war, dass ich den Ausstieg und die ‘Flucht’ in die Schweiz gemeistert hatte, erhoffte ich mir in der Psychiatrie Verständnis und Schutz. Ich war so geschockt von dem, was meine Eltern mir vor allem durch ihre religiöse Erziehung und der lebenslänglichen Beteiligung in versch. Sekten angetan hatten, dass ich in meiner Einsamkeit völlig verunsichert und schwer geschockt in eine psychiatrische Klinik ging.
Was mir dort aber begegnete spottet jeder Beschreibung! Sofort merkte ich, dass sich das System der Psychiatrie und des Gesundheitswesens, in ihrer Haltung dem Menschen gegenüber, dem System meiner Eltern und deren Sekten, sehr änlich sind! Da mich die Psychiatrie aber nicht sofort wieder entlassen wollte, wurde ich, wie ich heute weiss, re-traumatisiert.

Obwohl bei meinem ersten ärztlichen Kontakt die Diagnose ‘PTSD’ gestellt wurde, ging niemand darauf ein. Ich erlebte die ‘Fürsorge-Massnahmen’ und die ‘Behandlung’ als so schlimm, dass ich total geschockt war und mich nur unter grössten Überwindungen und mit Hilfe des ourchildhood-Forums, das ich inzwischen gefunden hatte,nicht umbrachte.
Da ich die ganze Zeit über in der selbstständigen Aufarbeitung meiner Vergangenheit war und gleichzeitig mittellos, ohne soziales Netz und z.T. Obdachlos war, bewegte ich mich über Monate in einer Hölle, aus der ich nur langsam, aber inzwischen mit Gewissheit, wieder heraus finde.

Mein Fazit ist, dass das schweizer Gesundheits – und Fürsorgesystem einem Menschen, der mit seiner schwerst traumatischen Vergangenheit beschäftigt ist, keine Unterstützung bietet, sondern ihm das Trauma sogar noch versucht auszureden, wenn er keine Schädigungen im Sinne des geltenden Opferschutzgesetztes vorweisen kann und keine körperlichen Symptome sichtbar sind. Darüber bin ich zutiefst erschüttert und sehr traurig! Ich bin sowohl bei Psychiatern, Therapeuten und Sozialarbeitern mit meiner Vergangenheitsschilderung als auch mit meiner Systemkritik auf Unverständnis, Abscheu und Pathologisierung gestossen!

Vergangene Woche ging ich in das Pädagogische Institut der Universität, um eine Ausgabe ihres ‘Am Anfang war Erziehung’ zu finden. Ich schlug das Buch auf. 1980. Ich konnte meine Tränen kaum zurück halten.
Dreissig Jahre. Das ist mehr, als ich gelebt habe. Es bleibt für mich unfassbar, dass so etwas möglich ist. Wissen sie, für mich stellen Ihre Schilderungen die aufschlussreichsten und revolutionierensten Erkenntnisse dar, die unsere jüngste Menschheitsgeschichte verzeichnen kann. Die Zusammenhänge, die Sie aufgedeckt haben, bergen ein ungeheures Potential in sich – eine Erkenntnis, die wir uns als Menschheit, zu ignorieren, einfach nicht länger leisten können!
Wissen sie, ich lebe in der Stadt, in der Sie gearbeitet haben. Vielleicht ist es deshalb so unbeschreiblich schmerzvoll zu sehen, dass Ihr Wissen von der Allgemeinheit und besonders von wissenschaftlicher und medizinischer Seite völlig ignoriert und, wie ich sehe, sogar verachtet wird.
Ich sehe mich, ich sehe meine Umgebung, ich sehe Kinder, und ich sehe das Leid. Dann sehe ich die Helfer und die gesellschaftlichen Organe. Ich kann in deren Bibliotheken die Bücher von Ihnen finden, wenn ich aber die Helfer darauf anspreche, reagieren sie, als ob ich ein Comic oder die Zeitung von vorgestern erwähnt hätte.
Dann sehe ich die fortschreitende Globalisierung und unseren grössenwahnsinnigen Reichtum. Dann denke ich an meine früheren Freunde und all die Leute, die im religiösen Wahn gefangen sind, und ich sehe das Elend meiner Freunde in Afrika, wo ich einige Zeit verbrachte.

Wissen sie, Frau Miller, ich kann es nicht begreifen. Ist es Ignoranz oder Feigheit oder ist es bereits Boswilligkeit, dass die Autoritäten und die breite Masse dieses Wissen nicht an sich ran kommen lässt. Diese Menschen, die vor lauter Angst in die berufliche ‘Proffesionalität’ geflüchtet sind – wo Ehrgeiz Tugend ist und Ahnungslosigkeit zur Religion geworden ist. Es macht mich wütend! Ich sass in einer Vorlesung über Erziehungswissenschaft für zukünftige Lehrpersonen. Die Werke von Ihnen wurden nur ein einziges Mal erwähnt und vom Dozenten mit einem spöttischen Lächeln in die Nähe der antiautoriären Bewegung geschoben.

Ich weiss nicht, ob die Gesellschaft jemals erwachen wird, aber ich weiss, dass es ein sehr schmerzvolles Erwachen sein wird. Ich hoffe so sehr, dass die Menschen endlich zu fühlen beginnen und jeder die Verantwortung für sein Tun übernimmt, anstatt es an den gängigen Werturteilen der Gesellschaft zu messen und folglich zu ignorieren.

Liebe Frau Miller, ich bin sehr dankbar für ihre Veröffentlichungen! Ich fühle mit Ihnen, wenn ich das Unrecht der gesellschaftlichen Ignoranz Ihrer Werke, und den Spott mancher Medien über Ihre Erkenntnisse sehe!
Ich selbst freue mich sehr an den vielen Menschen, die ich dank Ihrer Internetseite und dem Forum kennenlernen durfte!
Ich freue mich noch viel mehr, in meinem Leben echte Hoffnung, jenseits ideologischer und religiöser Botschaften gefunden zu haben. Nach meinem Sektenausstieg wurde mir immer wieder geraten, ich bräuchte nun unbedingt Ersatz für meine religiösen Bedürfnisse – aber wissen sie, es ist gar nicht wahr. Ich habe keine ‘religiösen Bedürfnisse’ mehr, seit ich gespürt habe und spüre, was meine realen kindlichen Sehnsüchte waren/sind.

Besonders dankbar bin ich auch für Ihre biographischen Einblicke in ihren Werken und dem Nachwort aus ‘Am Anfang war Erziehung’.

Ganz liebe Grüsse aus Zürich, D. R.

AM: Herzlichen Dank für Ihre Zeilen, die mich persönlich sehr stark berührten, weil sie so ganz anders sind als alles, was ich in Zürich erfahren habe. Als ich dort anfing zu fühlen und meine Entdeckungen mit anderen teilen wollte, fühlte ich mich, als hätte ich chinesisch gesprochen, das niemand hier verstehen konnte – natürlich. Später merkte ich, dass diese starke Abriegelung gegen die eigene Kindheit überall in der Welt zu finden ist, dass “Zürich” im Grunde kein Einzelfall ist. Aber anderswo fand ich immer wieder mal Ausnahmen, in Zürich leider keine, da bin ich nach wie vor fremd und total unverständlich geblieben, wie Sie es auch feststellen. Dass Sie mir als eine große und wirklich gut informierte Ausnahme so offen und herzlich geschrieben haben, hat mich natürlich sehr gefreut.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet