Verbogen

Verbogen
Friday 02 January 2009

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,

meine emotionale Realität und die vieler Menschen, die mit Müttern oder Vätern aufwachsen müssen, die jenen
von Rimbaud gleichen (Revolte des Körpers) ist, das sie von ihnen als “ihr Eigentum“ betrachtet werden.

Sie müssen die innere Leere ihrer Mutter/ ihres Vaters auffüllen und sie verlieren damit in Folge ihre Persönlichkeit, ihren Anspruch auf Beachtung, Schutz, ihre Bedürfnisse werden verleugnet und nicht
beachtet bzw. nach den Bedürfnissen des jeweiligen Elternteils ausgerichtet.

Dieses Elternteil “verbessert“ oder “verändert“ sein Kind damit, es seinen Wünschen und Vorstellungen entspricht.
Ich wurde als Linkshänderin zu einer Rechtshänderin „gemacht“ und habe meine Geschicklichkeit „eingebüßt“, einen Verlust erlitten,
meine fehlende Geschicklichkeit hat mich oft versagen lassen, Aufgaben denen ich gewachsen gewesen wäre wurden zu einer
unüberwindbaren Hürde, ich empfinde das als einen Verlust meiner ureigensten Identität, weil meine angeborene
Händigkeit ein Teil meiner Persönlichkeit ist.

Liebe und Geborgenheit haben wir nie erfahren, weil solche Eltern keine Gefühle haben, sie sind leer, ein weiterer Verlust den wir real erleiden.
Wir haben keine Rechte als Kinder solcher Eltern, weil wir minderwertig sind und alles was wir tun und alles was wir sagen muß diesen Menschen in ihrer Eigenliebe und „Grandiosität“ bestätigen.
Wir verlieren unsere Würde weil wir erniedrigt und
permanent als bloße Projektionsfläche von ihnen „benutzt“ werden. Wir verlieren unseren Anspruch auf Glück
und Lebensfreude, da diese Eltern unser Leid brauchen um sich zu erfreuen und ihre Überlegenheit bestätigen
zu können. Sie brauchen unsere Niederlagen um uns kritisieren und herabsetzen zu können, das gibt ihnen das
Gefühl uns überlegen zu sein und uns als die Schwachen und damit als die Verlierer sehen zu können. Wir verlieren unsere Selbstachtung, da uns vom ersten Tag unseres Lebens an suggeriert wird, dass wir eine reine
Enttäuschung für sie sind, nie können wir ihren Ansprüchen genügen, noch sind wir ihrer Aufmerksamkeit wert.
Wir verlieren Freundschaften, da Bindungen außerhalb der Familie von ihnen bewußt boykottiert, manipuliert
bzw. zerstört werden. Wir verlieren unsere Freiheit, da uns das Recht auf Selbstverwirklichung, eigene Freiräume und der Respekt vor unserer Persönlichkeit durch permanente Grenzüberschreitung genommen wird.
Wir verlieren unsere „Unschuld“ weil wir vom Tag unserer Geburt an Schuld sind: an unserer Schlechtigkeit,
unseren Krankheiten die ihnen Unannehmlichkeiten bereiten, an ihren Beziehungsproblemen, Streitigkeiten,
vermehrter Hausarbeit durch unsere Existenz (Wäsche, Nahrung, Zeitaufwand für Elternversammlung, Geschenke kaufen, Zeit für Arztbesuche) einen Aufwand, den wir ihnen verursachen, ihn aber nie Wert sind, sie müssen ihre Schönheit, Jugend, Zeit (…) opfern und wir sind Schuld, dass sie durch uns die große Karriere nie
für sich selbst verwirklichen können, sie müssen ihr Leben das ihnen „zusteht“ für uns „aufgeben“. Wir verlieren
eine gesunde Wahrnehmung und Orientierung in einer Welt, in der die Wahrheit zum Schutz der Grandiosität und Eigenliebe solcher Eltern täglich verleugnet, verzerrt und zu ihren Gunsten verkehrt wird. Wir verlieren unseren Seelenfrieden, weil wir über Jahre hinweg durch permanente Unterdrückung und willkürliche Herrschsucht im Zustand der inneren Anspannung und Angst gehalten werden (…).

Ich verspüre heute einen gigantischen Zorn und es ist mir bewußt geworden, dass ich mein ganzes Leben voller Zorn , voller Verzweiflung, voller Selbsthass und beinahe Bindungs-unfähig war! Im Childhood-Forum schrieb ich diese Worte ohne das mir bewußt war, dass die „Tür zur emotionalen Realität“ meiner Kindheit der Schlüssel war zu meiner Selbsterkenntnis!

Wir wurden als Kinder solcher Eltern ausgebeutet und darüber hinaus all unserer Persönlichkeitsrechte beraubt und trotzdem habe ich mich schuldig gefühlt, tatsächlich schuldig gefühlt weil ich glaubte sie nicht hassen zu dürfen, aber nun kann ich diesen Zorn fühlen und er ist berechtigt angesichts dessen, was mir angetan wurde.
ML

AM: Ja, es ist genau, wie Sie schreiben, nicht nur für Linkshändige, sondern für die Mehrheit der Menschheit, die von Anfang an verbogen wird. Ihr Zorn ist berechtigt. Ich wünsche Ihnen, dass er Sie eines Tages von Ihrem Selbsthass befreien kann, denn DIESER ist NICHT berechtigt. Das Kind konnte nichts machen, es musste sich fügen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet