Focus-Bericht über das Gehirn
Wednesday 17 October 2007
Sehr geehrte Frau Miller,
im letzten Focus wurde über das menschliche Gehirn und Veränderungen darin berichtet. Das veranlaßte mich, den folgenden Text mittels Email an Focus zu senden. Vielleicht ist er auch für Sie interessant.
Mit freundlichen Grüßen, Klaus Speck
Focus-Bericht Gehirn
Im letzten Focus erschien ein Bericht über neueste Erkenntnise der Hirnforschung. Darin wurde auch die Frage gestellt, warum misshandelte Kinder später manchmal gewalttätig werden, manchmal aber auch nicht. So wurde als Beispiel erwähnt, dass in einer Familie beide Jungen verprügelt wurden. Der eine wurde gewalttätig und landete im Gefängnis, wo er einen Mithäftling misshandelte und zur Selbsttötung trieb. Der jüngere Bruder hingegen wurde nicht gewalttätig, obwohl er doch dasselbe erlebt hatte.
Sicherlich ist man sich einig, dass Kindesmisshandlung „irgendwie nicht gut ist“ (Achtung, Sarkasmus). Aber dann kommt auch schon die sattsam bekannte Erklärung , warum die misshandelten später selbst misshandeln. Es liegt nämlich gar nicht an den schlagenden Eltern. Es liegt an den Genen der Geschlagenen. ´Haben diese „gute“ Gene, so werden bestimmte Hirnbereiche trotz der Misshandlung mit den entsprechenden Botenstoffen versorgt und entwickeln sich normal. Haben sie hingegen „schlechte“ Gene, so entwickeln sich die Hirnregionen mangels der Botenstoffe negativ, der Misshandelte wird von seinem Gehirn und seinen Genen gezwungen, selbst zu misshandeln. So einfach ist das also.
Glücklicherweise sind damit die Eltern wieder mal geschützt, denn es liegt ja an den Genen, ob ein geschlagenes Kind später selbst schlägt oder nicht. Kein Wort von den wirklich wichtigen Dingen und Erkenntnissen, die Betroffene kennen und die Autoren wie Alice Miller beschreiben. Kein Wort von:
– Empathie
– Liebe
– Respekt
– Verständnis
dem Kind gegenüber. Kein Wort davon, dass sich Schläge buchstäblich ins Hirn eingraben und natürlich Veränderungen zur Folge haben. Kein Wort davon, dass ein gewisses Maß an Zuwendung, Liebe, Hilfe von irgendeiner Seite diese Folgen durchaus abschwächen kann. Alice Miller nennt das „wissender Zeuge“, und aus eigener Erfahrung weiß ich , wie solch ein wissender Zeuge wirken kann. Wie positiv nämlich. Auch ich hatte glücklicherweise wissende Zeugen, auch wenn diese sich dessen vielleicht gar nicht bewusst waren. Und dadurch wurden positive Änderungen bewirkt, nicht durch Gene.
Hier wurde wieder einmal die große Chance vertan, die wirklich Schuldigen beim Namen zu nennen. Stattdessen wurden die Eltern geschützt und entlastet, wie es seit Jahrhunderten schon passiert. Und wieder – auch eine lange gepflegte Unsitte – bekamen die Leidenden auch noch die Schuld an ihrem Leiden zugesprochen –diesmal durch die unseligen Gene, die sie in sich tragen. Nein, nicht das Schlagen war ursächlich. Nicht das Wegsehen des Umfeldes von den Nachbarn über Kindergarten, Schule, Kirche etc. Letztendlich sind es die Gene, und die Eltern sind fein raus. Fehlt nur noch der Satz: „Sie haben es doch gut gemeint und wollten nur dein Bestes.“
Haben hier einige ihre eigene Geschichte vor Augen gehabt und nicht den Mut, diese zu entdecken? Es ist ja viel einfacher, wegzuschieben statt aufzuarbeiten. So muß man den eigenen Schmerz nicht mehr fühlen (scheinbar, denn er ist doch da) und hat gleichzeitig eine Entschuldigung für die immer noch gefürchteten Eltern. Und gegen Gene ist man doch schließlich machtlos.
Also alles Schicksal? Nein, wir müssen endlich erkennen, dass Misshandlungen von Kindern aufhören müssen und es muß aufhören, die Schuldigen zu schützen. Nur wenn alle empathisch sind für das Leiden und wenn jeder versucht, ein wissender Zeuge zu sein, wird es nicht mehr zu Misshandlungen kommen.
Dazu gehören nicht nur Schläge, sondern auch:
– Beschämungen
– Beschimpfungen
– Demütigungen
– Ehrverletzende Strafen
– Respektlosigkeit
– Zwang nach Unterwerfung/Disziplin/Gehorsam.
Geben wir den Kindern Respekt, Liebe, Zuwendung, Hilfe. Dann werden sich die Gehirne auch ändern, zum Nicht-Schlagenden und Nicht-Entschuldigenden Erwachsenen. Respektvolle Eltern werden respektvolle Kinder haben – ohne den Zwang des vierten Gebotes zu benötigen.
Verschließen wir nicht länger die Augen vor dem Leid. Dann brauchen wir weniger Jugendstrafen, weniger Heime und weniger Gefängnisse.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Speck
AM: Da ich annehme, dass Ihr Brief an Focus dort nicht abgedruckt wird, wollen wir ihn hier publizieren, weil er wichtig ist und Beachtung verdient. Besten Dank für die Kopie.