Jede Farbe wurde ausgelöscht

Jede Farbe wurde ausgelöscht
Tuesday 03 March 2009

Liebe Alice Miller,

Ich habe versucht, mir zuzuhören und dabei kam dann das heraus:

Es geht darum so nah wie möglich bei sich zu sein. So nah wie möglich im
Kontakt mit allen Sinnen. So nah bei dem inneren Kind. So nah, nach so vielen
Jahren der Einsamkeit.
All das was in mich reingepresst wurde, bin ich nicht. Ich bin das nicht und
hatte immer Mühe dagegenzuhalten. Gegen die Ideologie, die hämmernden
Sprüche, den Terror, die Schläge, den Hass, die Wut, die Einsamkeit…
Deshalb: Ich bin das nicht. Es wurde mir eingetrichtert. Ich will, dass das
geht. Ich will, dass das raus geht. Ich will es nicht mehr in mir haben. Ich
will davon wissen, aber ich will es nicht mehr tragen müssen. Es ist die Last
der anderen…. Ich will nur noch meine Last tragen, falls es das überhaupt
gibt?
Habe ich nicht viel zu sagen? Ich habe. Ich habe so viel zu sagen. Ich will
endlich reden dürfen, nach so vielen Jahren. Ich will reden auf
unterschiedlichen Ebenen. Ich will reden mit meinem Mund, meinem Körper, meinen
Händen, meiner Seele…
Es ist so schwer – bei mir zu bleiben – diesmal nur bei mir zu bleiben. Dieses
Mal endlich mich wieder-zu-finden. Ich bin verloren gegangen auf diesem Weg zum
Erwachsenwerden…. ich suche mich schon seit Jahren. Das ungute: Den Blick auf
andere werfen. Diesmal nicht. Ich suche bei mir, in mir…
Ich durfte nicht leben. Alle Triebe wurden abgehackt. Jede Farbe wurde
ausgelöscht, niedergetrampelt, klein gehalten, ruhig gestellt. Ich war
lebendig, schön, bezaubernd, laut und wild…

So viele Jahre schaute ich mich um, schaute zu anderen, fragte andere, suchte
bei anderen,…. das war der falsche Weg zu dir. Schau in dich, in mich und
finde alles was du brauchst. Ja das kann ich nur so sehen. Es ist alles in mir.
Alles. Es wartet auf mich. Ich will an mich glauben, ich will es. Es wird
niemals sonst jemand tun. Keiner kommt und sieht das, was ich spüre und selbst
sehe. Ich sehe es und ich bin verpflichtet es zu finden. Meine Größe. Meine
Brillanz. Mein Leben. Meine Leichtigkeit. LIEBE!

Ich höre Euch rufen, laut, aufmüpfig, wild – ein flehendes, bittendes Rufen.
Ihr ruft mich alle. Ihr seid so viele… Ihr steht vor mir mit traurigen Blicken
und mit großer Erwartung. Ihr wollt, dass ich jeden Einzelnen höre und sehe um
ihn zu retten? Ja, jeder ist wundervoll in seinem Sein! Jeder einzigartig! Wem
sollte ich die Erlösung verwehren? So bin ich doch alle. Doch wen höre ich zu
erst an? Wer darf als erster das Wort erheben, nach so vielen schmerzhaften
Jahren?

All die Jahre wart Ihr alleine, einsam. Kein zweiter glaubte an Euch, an Eure
Existenz. Ich wußte schon immer davon, ich erahnte es, dass es etwas in mir
gibt das groß und wundervoll ist…
Ich wußte es, doch ich traute mich nicht raus damit. Hielt es im Geheimen.
Doch Ihr wütetet, klagtet mich an, tobtet in mir. Ich ließ Euch, ich ließ
Euch gewähren, in mir. Manchmal hielt ich es kaum aus. Ja, ich spürte Eure
Einsamkeit, die zugleich die meine ist.

Ich ließ Euch nicht leben. Früher durftet Ihr nicht leben, Ihr durftet nicht
tanzen, nicht singen, nicht frei sein, nicht reden wie es Euch gefiel. Ihr
musstet Euch verstecken, ganz tief in mich hineinkriechen, habt Euch Schutz IN
mir gesucht. In meinem Körper. Ihn stellte ich Euch zur Verfügung, er galt
Euch, dort ließ ich Euch, dort verließ ich Euch…

Nun werde ich weicher, hellhöriger und nehme Eure Rufe und Schreie wahr, mein
Körper bebt dadurch. Er ist voller Spannung, verkrampft von Kopf bis Fuß – so
stark Eure Schmerzen!

Habe Euch noch nicht freigelassen. Habe doch so Angst vor Euch allen. So Angst,
dass Ihr mich überrennt, dass ich dabei den Kopf verliere.

Doch wem überlasse ich den Vortritt? Wer von Euch darf als Erster raus? Ich
fühle Euch, ich sehe Euch wie Ihr drängelt, wie Ihr raus wollt und doch stehe
ich vor Euch und weiß nicht weiter…
WER??? WAS??? WOHIN???

Ich weine und weine, bin traurig, dass Ihr so lange warten musstet, dass Ihr
nicht gehört wurdet, dass Ihr nie leben durftet. Welches Gefängnis errichtet
werden musste?

Liebe Alice Miller, danke, dass ich Ihnen schreiben kann. Wie sehr es mich
freut, und wie viel Hoffnung es mir gibt, zu sehen, dass man es schaffen kann!!
Es ist mir egal, selbst wenn ich auch 40 Jahre zurücklegen müsste um endlich
mich zu finden, dann gehe ich diese 40 Jahre, und sitze irgendwann mit grauen
Haaren da und bin glücklich, ein tiefes Befriedigt-sein, das wünsche ich mir.
Es schmerzt so, eigentlich rennen zu können und doch bei jedem Schritt
nachzudenken, oder erst gar keinen Schritt machen zu können, auszuharren in der
Todesstellung. Und doch: Ich werde weiter gehen und mich auf das Leben
einlassen. Ich werde Erfahrungen machen, die anders sind, als die, die meine
Eltern und die Zeugen mir eingeredet hatten. Unendlichen Dank an Sie, dass sie
mit so viel Mut voraus gegangen sind und sich nicht verunsichert haben lassen
von den allermeisten Menschen. Es war wohl ein sehr schwerer Weg und wer weiß,
vielleicht ist es das immer noch. Aber ich bin glücklich, dass Sie sich gut
aufgehoben fühlen und verstanden fühlen. So soll es sein!
Mein herzlicher Dank an Sie, RR—

AM: In Ihrem Brief ist viel Trauer, aber auch gleichzeitig sehr viel Energie unnd Kraft. Man hat so lange Ihre Sehnsucht nach Wahrheit, Integrität, Kreativität, Bewegung unterdrückt, dass Sie kaum länger diese Unterdrückung aushalten können und all das endlich leben wollen, was Sie so dringend brauchen. Doch Sie scheinen immer noch zu fürchten, dass dies verboten sei. Nein, das alles, was Sie sich wünschen, ist ERLAUBT. Nur in der Sekte war es Ihnen verboten, die Wahrheit zu sehen, Sie waren gezwungen, an Lügen zu glauben – unter den schlimmsten Todesdrohungen. Doch Ihre Sehnsucht nach Wahhrheit, nach der Befreiung von den Lügen, hat Sie gerettet. Sie beschreiben deutlich, wie es war, und Sie wagen mehr als so viele andere, die meinen, lebenslänglich Opfer bleiben zu müssen.
Wir publizieren nur Ausschnitte aus Ihrem sehr persönlichen Brief.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet