Die Kultur des Redens

Die Kultur des Redens
Tuesday 24 November 2009

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Sehr geehrte Frau Miller,

vielen Dank für Ihre Antwort, die mich auch SEHR gefreut hat. Gerne will ich Ihre Frage beantworten, wie wir das unheimliche Schweigen beenden können.

Ich habe lange über die Antwort nachgedacht. Nicht, weil mir nicht die üblichen medienwirksamen Maßnahmen eingefallen sind, die ich sowieso schon nutze und noch mehr nutzen werde. Sondern deshalb, weil es das ja bereits gab und einige Menschen an die Öffentlichkeit gegangen sind. Nur hatte das bislang nicht den gewünschten Effekt, den wir uns alle erträumen: Das sich endlich etwas ändert, sowohl in der Gesetzgebung und Rechtsprechung, als auch in der Wahrnehmung der Menschen. Ein medienwirksamer Auftritt verpufft, wenn er nicht auf fruchtbaren Boden fällt. Doch wie können wir den Boden fruchtbarer machen? Ich möchte hier meine eigenen Erfahrungen mit dem Schweigen schildern.

Ich habe bereits vor 6 Jahren anderen Menschen von meinem Missbrauch erzählt, aber sie reagierten so, als hätten sie mich gar nicht gehört. Genauso erging es mir auch noch bis vor 6 Monaten, sogar bei meinen Freundinnen und das machte mich stutzig. Ich erkannte, dass ich mir selbst nicht wirklich glaubte, wenn ich meinen Missbrauch erzählte bzw. ich spielte ihn herunter. Ich war ja nach außen hin die Superheldin, die mit allem klar kam. Von wegen.

In Wahrheit schwieg ich vor mir selbst und wollte meine tiefsten Verletzungen nicht fühlen. Ich wollte letztendlich genau das Gleiche wie die Menschen um mich herum: Es sollte vorbei sein und mir endlich besser gehen. Ich wollte wirklich weiter Schweigen, das war mein tiefster Wunsch, wie ich heute weiß. Und genau das spiegelte mir meine Außenwelt. Ich bin selbst erstaunt, dass mir das in all den Jahren nicht aufgefallen ist, wo ich mich doch sehr viel mit meiner Selbstwahrnehmung beschäftigt hatte.

Erst als ich Ihre Bücher las und Ihnen vertraute, fing ich an, ganz tief in mich hineinzufühlen und „nachzufragen“. Ich vertraute Ihnen, weil mir Ihre Lösungsansätze so logisch erschienen und letztendlich alles andere bisher nichts geholfen hatte. Auch fühlte ich Rückhalt und mich ermutigt. Denn ohne Mut geht es nicht. Die Verletzungen zu befragen und zu fühlen, löste bei mir einen schweren Schock aus, der 6 Wochen andauerte. Auch das will ich nicht verschweigen. Aber mir war das Ziel wichtiger, als meine Angst vor dem Weg und schließlich war mein Leben bis dahin auch ein Alptraum gewesen, schlimmer konnte es also nicht mehr werden. Das tröstete mich.

So fing ich an mit mir zu reden und damit mein Schweigen gegenüber der wichtigsten Person zu brechen: Mir! Erst dann konnte endlich die ohnmächtige Wut gegenüber meinen Eltern aufsteigen und sie nicht mehr gegen mich oder andere Menschen richten. Manchmal weiß ich auch heute noch nicht, wohin mit meiner Wut. Ich spreche sie dann einfach gegenüber Freunden aus, die mir JETZT zuhören. Meine Freunde schrieben mit teilweise Briefe, in denen sie sich entschuldigten, dass sie meinen Missbrauch nicht wahrgenommen hätten. Doch sie waren nur mein Spiegel für meine eigene fehlende Wahrnehmung.

In meinem Freundes- und Arbeitskreis weiß mittlerweile jeder, dass ich unglaublich schwer missbraucht wurde. Ich rede so natürlich darüber, weil ich mit mir selbst auch darüber reden kann. Ich nehme mich endlich wahr. Immer wieder höre ich meinen Verletzungen zu und frage sie, was sie brauchen. Ich weine und trauere um mich, bis es vorbei ist. Und weil ich mich mittlerweile selbst trösten kann, erwarte ich von meinen Gesprächspartnern auch nicht mehr, dass ich getröstet werde.

Als ich Krebs hatte, war es für mich selbstverständlich darüber zu reden und niemand hörte weg. Also spreche ich heute von meinem schweren Missbrauch so NATÜRLICH und RESPEKTVOLL, wie wenn ich von meinem Krebs erzählen würde. Ich rede aus der Sicht des Betroffenen und nicht des Opfers. In dem ich mir gegenüber mein eigenes Schweigen gebrochen habe, erfuhr ich Achtung vor mir selbst und lernte meine Verletzungen anzunehmen.

Das Schweigen vor mir selbst zu brechen, war also die eigentliche Herausforderung. Mir selbst gegenüber meinen schweren Missbrauch auszusprechen und die Wunden zu fühlen war schwer. Aber es ging und ich weiß heute, dass daran kein Weg vorbei führt. Und ich kann mit Überzeugung sagen, dass es bei mir nur wenige Monate dauert, bis es mir ENDLICH deutlich besser ging.

Bei all den Gesprächen, zunächst mit MIR und dann mit anderen Menschen, war für mich die größte Befreiung, dass ich mein Theaterstück beenden konnte, in dem ich die starke und schweigsame Heldin spielte, die den Krieg gegen sich selbst schon lange verloren hatte.

Deshalb kann ich aus meinen Erfahrungen nur empfehlen, über das Thema Missbrauch so viel und natürlich wie möglich zu sprechen UND DAMIT BEI SICH SELBST ANZUFANGEN. Denn die Menschen sind ja nicht taub und haben schon oft gehört, wie verbreitet Misshandlungen und Missbrauch in der Kindheit sind. Nur wenn wir aus Schuld und Scham unsere Erfahrungen nicht respektvoll annehmen und offen mit uns selbst kommunizieren, können wir es anderen Menschen nicht offen vermitteln. Und das führt dann dazu, dass die Menschheit glaubt, es würde gar nicht so häufig vorkommen oder an den Erzählungen zweifelt.

Deshalb werde ich mich für uns Betroffene einsetzen, sowohl in den Medien als auch juristisch, um es dem Schweigen unbequem zu machen. Ich stelle dafür gerne mein Gesicht zur Verfügung, denn Missbrauch hat viele Gesichter, die viel zu wenige kennen.

Für weitere Anregungen bin ich dankbar!

Herzliche Grüße
Alexandra Ehlert

„Beratung für manipulierte und missbrauchte Menschen!“

www.alexandra-ehlert.de

—– original Nachricht ——–

Betreff: Re: Brief an Alice Miller zur Veröffentlichung
Gesendet: Mi 18 Nov 2009 17:53:35 CET
Von: “Alice Miller”

Ich habe mich über Ihren Brief SEHR gefreut, natürlich über die Tatsache, dass Ihnen meine Bucher ( und vor allem Du sollst nicht merken, das ich für besonders wichtig halte), so gut geholfen haben. Doch vor allem freut es mich, dass Sie offenbar voll begriffen haben, WESHALB Ihnen diese Bücher helfen konnten.
Die aufgezwungenen Schuldgefühle, gepaart mit der Angst vor Bestrafung, die den berechtigten Zorn blockieren, bilden oft den größten Widerstand gegen den Weg, den Sie zu gehen gewagt haben. Sie wirken wie ein Gift für den Körper. Aber wenn man sich vor der Angst vor den Eltern befreien kann (weil man gesehen und gespürt hat, wie schmerzhaft sie uns verletzten), dann wird der Zorn frei und schenkt den Verletzten die Kraft zu fühlen und Schritte zu unternehmen, die seit langem fällig waren. Haben Sie eine konkrete Vorstellung davon, was man untenehmen kann, um das unheimliche Schweigen zu durchbrechen?

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From: “ehlert.alexandra@freenet.de”
To: mailbox2am@yahoo.com
Sent: Wed, November 18, 2009 2:45:24 PM
Subject: Brief an Alice Miller zur Veröffentlichung

Sehr geehrte Frau Miller,

es ist für mich (39 J.) wundervoll zu wissen, dass es Sie mit Ihren Büchern gibt. Einfach unbeschreiblich erlösend ist für mich Ihr Buch „Du sollst nicht merken“.

Mit Hilfe dieses Buches haben sich die letzten Puzzleteile endlich zusammen gefügt, so dass ich einfach alles in meinem Leben verstanden habe. Besonders hilfreich waren Ihre Ausführungen zu Freud und seine Theorien, Hitler, die Erklärungen zum Thema Schweigen und Verdrängung, Depression als Ausdruck des unterdrückten Selbst und die Unantastbarkeit der Eltern.

Auch Ihre kritische Haltung zu der Verehrung Gottes und Ihre aufgeworfene Frage, warum eigentlich Josef nicht verehrt wird, fand ich sehr inspirierend. Dadurch habe ich verstanden, warum in Politik und Gesellschaft sexueller Missbrauch wissentlich toleriert und damit gefördert wird.

Wie Sie unschwer erahnen können, bin ich selbst auf das Schwerste missbraucht worden. Die Unfassbarkeit, was meine Eltern mir angetan haben, ist in meinen tiefsten Schichten angekommen. Und erst jetzt kann ich ungläubigen Hass gegen meine Eltern empfinden, der sich endlich nicht mehr gegen mich selbst richtet. Ich lag unzählige Male im Sterben und mein Leid war groß.

Doch ich hatte das „Glück“, einen ungemein starken Überlebensinstinkt zu haben, der mich meinen eigenen Weg hat finden lassen. Dafür bin ich vor 5 Jahren aus meinem Beruf ausgestiegen und in die Berge gezogen. Ich habe mir im Selbststudium alles über Emotionale Intelligenz bis hin zur Bewusstseinsforschung angeeignet. Ich habe an mir jede Erkenntnis und Methode ausprobiert und sie daraufhin überprüft, was davon meiner Seele hilft und was nicht. Zwar verstand ich immer mehr, aber wesentlich besser ging es mir nicht.

Dann fühlte ich dieses Jahr etwas Böses in mir aufsteigen. Ich empfand Mordgelüste gegenüber anderen Menschen. Ich war erschrocken über mich selbst und spürte, dass jetzt nicht mehr nur ich sondern auch andere Menschen in Gefahr waren. Und dann fielen mir zum Glück Ihre Bücher in die Hände. Ich fühlte mich so verstanden und konnte mir endlich meine Wut GEGEN MEINE ELTERN erlauben.

Manchmal fühle ich eine so rasende Wut, weil ich nichts mehr gegen meine Eltern unternehmen kann. Alles ist verjährt, obwohl ich erst 39 Jahre alt bin. Als Juristin sind mir natürlich die Konsequenzen bewusst, die es mit sich bringen würde, wenn weltweit die Verjährungsfrist für Missbrauch abgeschafft würde: Unsere Gerichte würden wegen Arbeitsüberlastung zusammenbrechen und die Gefängnisse wären überfüllt.

Denn ich glaube, dass es den meisten Menschen gar nicht bewusst ist, wie viele Täter es auf dieser Welt gibt: Genau so viele wie Betroffene! Und die sitzen überall (Ärzte, Psychiater, Richter, Abgeordnete, Rechtsanwälte) und verhindern Gerechtigkeit. Und genau deshalb werde ich von nun an Betroffene seelisch beraten und mich juristisch einsetzen. Ich kann gar nicht anders, es ist mein tiefster Wunsch meinen Teil dazu beizutragen, dass es irgendwann gerechter zugeht.

Ich habe noch einen langen Weg vor mir, aber mir geht es endlich deutlich besser. Meine ambivalenten Gefühle sind vorbei und meine Wahrnehmung ist vortrefflich geworden. Vor allen Dingen ging das dann relativ schnell, nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe. Darüber bin ich am meisten verwundert und ich wünschte, Therapeuten und Psychiater würden Ihre Überzeugungen berücksichtigen. Leider tun sie das nämlich immer noch nicht, ich kann also auch keinen guten empfehlen, dabei habe ich wirklich viele ausprobiert.

Ich wollte mich mit diesem Brief bei Ihnen bedanken. Ihre Einsicht und Weitsicht sind für mich unglaublich. Sie haben das alles bereits vor knapp 30 Jahren gewusst und publiziert, das ist grandios! Schlimm ist, dass sich seitdem kaum etwas verändert hat.

Aber wir gehen in ein neues Zeitalter und es werden immer mehr Opfer bereit sein, das Schweigen zu brechen. Denn letztendlich können nur wir, die Betroffenen, etwas ändern. So lange wir das Spiel mitmachen und Schweigen, geben wir unseren Eltern und den anderen Tätern die Macht.

Danke für Ihre Kraft, Ihr Durchhaltevermögen und Ihre Liebe, Sie sind ein großes Vorbild für mich!

Herzliche Grüße

A. E.

AM: Ja, wo das Schweigen herrscht, müsste das Reden geübt werden. Ehemalige Opfer von Misshandlungen durften kaum jemals in ihren Familien reden. Wo das Schlagen und Schreien herrschen, ist kein Raum für das gesprochene Wort. Daher machen meine Texte so viel Angst, weil ich die Dinge beim Namen nenne. Wir müssen die Kultur des Redens über schmerzhafte Vorgänge erst entwickeln. Sie scheinen in dieser Richtung zu arbeiten, das ist gut so – falls Sie sich nicht von den üblichen, wirkungslosen Therapiemethoden einlullen lassen, die sich mit der Lüge arrangieren.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet