Nicht liebesfähig

Nicht liebesfähig
Thursday 17 December 2009

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Sehr geehrte Frau Miller,

ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich froh bin, dass Sie mir geholfen haben die Lügen der Moral zu durschauen und mich davon nicht länger versklaven zu lassen.

Ich habe mich mein ganzes Leben lang belogen, um diesen perversen Moralvorstellungen gerecht zu werden, deswegen war ich auch schon so früh depressiv und wollte sterben, weil ich innerlich ja ohnehin schon tot war, ich war nur eine Maschine, innerlich abgetötet dazu, abzunehmen, zu lernen, brav zu sein, das war alles, was ich war und was ich auch immer für sie sein werde und, wenn ich das nicht tue, bin ich eine böse Maschine, die durch Drohungen „repariert“ gehört, damit sie ihren Benutzern, also den Lehrern, Eltern und Mitschülern weiterhin viel Freude bereitet. Sie haben mich zu einem Objekt gemacht, das man je nach Belieben ein- und ausschalten kann, wie man es gerade braucht. Die Mutter braucht gerade etwas Liebe: sie schaltet mich ein und droht mir, wenn ich sie nicht hundertprozentig glücklich mache. Sie braucht mich gerade nicht, ich bin ihr lästig, weil ihre Freundinnen da sind, sie sagt mir ich soll gefälligst in mein Zimmer gehen und mich nicht rühren, denn ich würde sie ohnehin nur stören. Aber das Problem ist, dass ich sie immer störe, ich habe mein ganzes Leben lang nur gestört, zumindest haben sie mich so behandelt, als ob es so wäre, es hat sich nicht geändert. Ich habe mich bis vor Kurzem gefragt, ob nicht alles noch schlimmer wird, wenn ich endlich mein eigenes Leben lebe, aber dann habe ich mich gefragt: „Wie soll es denn noch schlimmer werden? Ich bin depressiv seit ich 10 Jahre alt bin und will mich ernsthaft umbringen, seit ich 15 bin. WIE SOLL ES DENN NOCH SCHLIMMER WERDEN? Es kann doch nur besser werden.“ Und dann habe ich mich gefragt, ob ich denn meine Chance auf Liebe so endgültig verspielt habe, aber dann habe ich mir gesagt: „Deine Mutter hat dich schon angeschrieen, wenn du nur einmal etwas aus dem Kühlschrank gegessen hast, was für die Gäste war. Sie hat dir ständig genüsslich erzählt, wie unfähig du doch bist, aber gleichzeitig erwartet, dass du in der Schule Höchstleistungen vollbringst, sie hat ihr sadistisches Vergnügen dabei gehabt, dir jede noch so kleine Winzigkeit noch Jahre später unter die Nase zu reiben, dich so richtig fertig zu machen. Nur ja kein Selbstwertgefühl aufkommen lassen. Sie hat ja kürzlich erst zugegeben, dass es ihr Angst macht, dass du so weise bist, weil sie da die Kontrolle über dich verliert. UND VON SO EINER FRAU WILLST DU GELIEBT WERDEN, DIE DOCH GAR NICHT LIEBEN KANN?“ Es ist aussichtslos, sie kann nicht lieben, sie hat mich nie geliebt und je mehr ich mir das eingestehe, desto besser geht es mir. Ich habe das erste Mal in meinem Leben das Gefühl lebendig zu sein.

Ich bin jetzt 24 Jahre alt und empfinde das erste Mal in meinem Leben das Gefühle der Liebe und Geborgenheit, das habe ich bisher gar nicht gekannt.

Ich wollte nur sagen, dass ich froh bin, dass Sie geholfen haben mich selber zu retten.

Herzlichst L

AM: Ich gratuliere Ihnen, dass Sie in Ihrem Alter schon so viel verstanden haben! Und Ihr Körper dankt Ihnen dafür offensichtlich mit der großen Erleichterung. Auf die Liebe eines Menschen zu warten, der nicht liebesfähig ist, kann eine lebenslange Katastrophe sein. Viele nehmen dies in kauf, weil sie sich die Wahrheit nicht eingestehen wollen oder können. Sie fürchten sie einfach.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet