Ihre Bücher
Wednesday 06 February 2008
Liebe Alice Miller,
ich möchte Ihnen für Ihre Bücher danken, die mir zu vielen wichtigen emotionalen Erkenntnissen verholfen haben. Gerade lese ich „Das Drama das begabten Kindes“. Es tut gut, das Gefühl zu haben, dass Sie das in Worte fassen, was ich zuvor selbst unbestimmt gefühlt habe.
Ich studiere Psychologie und es ist teilweise nur sehr schwer zu ertragen, wie die Psychologie an meiner Uni aussieht. Gestern haben wir in einem Seminar beispielsweise über „die“ Depressiven gesprochen. (Randbemerkung: Es schien so, als sprächen die Seminarteilnehmer über eine merkwürdige Käferart, eine ganz andere Spezies, mit der wir gar nichts zu tun haben). Die Dozentin besprach mehrere Depressionstheorien (Levin, Beck u.ä.) und bemerkte, dass Depression letztendlich nichts anderes als ein Selbstkontrollproblem sei. Denn schließlich würden sich Depressive zum Beispiel gegenüber einem Handwerker, der in ihrem Haus etwas repariert, sozial kompetent verhalten, gegenüber engen Vertrauten aber würden sie jammern und klagen. Das sei sehr anstrengend für die Angehörigen, Freunde etc. Die Depressiven sollten also lernen, sich auch gegenüber den Vertrauten sozial kompetent zu verhalten, und die „falschen Überzeugungen“ aufgeben. Sie sollten sich eben besser „im Griff haben“.
Das heißt letztendlich, depressive Menschen sollten ihr falsches Selbst weiter füttern, um möglichst angenehm und bequem für die Umwelt zu sein. Sie sollten sich gegenüber „Vertrauten“ so verhalten, wie gegenüber einem Fremden (z.B. dem Handwerker). Diese Ungeheuerlichkeit in diesen Aussagen schien sonst niemandem im Seminar aufzufallen. Umso so glücklicher bin ich, ihre Bücher gelesen zu haben, und mich verstanden zu fühlen.
Ich weiß, was es bedeutet, sich selbst entfremdet zu sein, und bin gerade dabei mich von meinem großen Leistungsmotiv zu befreien, was sehr gut tut. Meine Eltern haben mich in meiner Kindheit und Jugend für ihre Bedürfnisbefriedigung benutzt und mir beigebracht, immer lieb, nett, brav, altruistisch, zurückhaltend, still zu sein und bloß „kein Theater zu machen“ . Mir wurde häufig gesagt, ich solle mich schämen.
Ich war in der Schule immer die Klassenbeste, ich war die Trösterin meiner Mutter. Am Wochenende ging ich nicht aus, da meine Mutter mich mit flehenden Augen zu Hause hielt. Ich habe den Papierkram, der in einem 5-Personen-Haushalt so anfällt, organisiert. Meine Mutter sagt heute noch über mich, mit mir könne man so gut reden und ich wäre so gut organisiert. Ich konnte zu Schulzeiten Dinge lernen, die mich nicht interessierten, ohne dass ich Pausen benötigte. Heute gelingt mir das nicht mehr, da ich einen großen Unwillen spüre. Darüber bin ich sehr froh, heißt es doch, meine eigenen Bedürfnisse fühlen und ernstnehmen zu können.
Ihre Bücher haben mir dabei geholfen, meine Geschichte zu verstehen und in einen Zusammenhang zu setzen. Ich möchte Ihnen für Ihre Arbeit gerne auf diesem Wege meinen Dank, meine Wertschätzung und meine Anerkennung aussprechen.
Mit herzlichen Grüßen, J. M.
AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Was muss alles in der Kindheit dieser Studenten geschehen sein, damit diese das schwachsinnige Palaver der Dozentin ertragen können, ohne sich zu wehren. Kein Wunder, dass sich diese Menschen mit Drogen betäuben müssen, wenn sich ihr Körper gegen diesen und ähnlichen Unsinn auflehnt.