wie befreie ich mich ohne zu fallen?

wie befreie ich mich ohne zu fallen?
Tuesday 14 March 2006

Ich weiß nicht weiter,
ich fühle mich kraftlos. vor einigen Tagen fing ich wieder an, Bücher von Ihnen zu lesen. Ich wurde erst wütend, dann traurig, dann beides. Ungefähr zeitgleich bekam ich furchtbare Rückenschmerzen, welche bis jetzt andauern. Manchmal, während ich lese, wird mir plötzlich übel. So übel, daß ich mich übergeben muß.
Ich verstehe eines nicht: ich war doch in einer Therapie, welche zwei Jahre andauerte. In dieser Therapie wurde mir bewußt, daß ich als Kind wirklich gelitten hatte und auch immer noch unter meinen Eltern leide. – Vielleicht habe ich das aber damals noch nicht fühlen können.
Mein Leben macht mir nach wie vor keine Freude; eher ist es seit der Therapie schlimmer geworden, bewußter, aber dennoch schlimmer. An meine Kindheit habe ich nur wenige Erinnerungen. Die positiven fanden draussen, in der Natur statt. Manchmal mit A., meinem großem Bruder; die negativen drinnen. Einmal schlug mich meine Mutter wild auf den Kopf, immer wieder. Meine Freundin war zum Lernen da und ich muß wohl etwas falsch gemacht haben.
Ich war ein ängstliches und schüchternes Kind und nicht sehr gut in der Schule. Auch später, als wir aus dem Ostblock nach Deutschland kamen, war das eine Katastrophe. Ich wurde eingeschult und verstand kein einziges Wort. Meine Eltern arbeiteten den ganzen Tag und hatten auch dann keinen Nerv mehr, sich mit mir zu beschäftigen. Stattdessen stritten sie immer mehr. Mein großer Bruder heiratete und wollte nichts mehr mit mir zutun haben. und ich, ich war so unsicher und kam in die Pubertät. Ich verliebte mich das erste mal und sie lachten mich aus. Sie sagten, ich sollte mir nichts einbilden, so, wie ich mich anziehe und so unordentlich würde mich niemand lieben. Später sagten sie das auch über meine Freunde. Jetzt hackten sie nämlich Beide auf mir herum. Jeden Tag, jeden verdammten Tag hackten sie auf mir herum. Beide. Immerhin waren sie sich damit einig. Mein Vater trank öfters und einmal, an Weihnachten drehte er durch und verprügelte meine Mutter. Er drückte Zigaretten an ihr aus, immer wieder zündete er sich neue an und drückte sie dann auf ihrem Körper aus. Als ich ihn wegreißen wollte, flog ich nur gegen den Schrank. Ich zittere, wenn ich das hier schreibe.
Einmal veprügelte er mich grün und blau. Ich lag auf dem Boden und er schlug auf mich ein; ich höre noch meine Ohrringe gegen die Fensterscheibe klirren. Damals war ich siebzehn. Ich brach die Wirtschaftsschule ab…und suchte mir heimlich eine Lehrstelle. Kein Wunder, daß nichts mehr funktionierte; aber sie, sie machten mir die größten Vorwürfe: ich würde es zu nichts bringen, ich wäre ein Schwein.. Ich machte meinen Abschluß aber auch das war eine Katastrophe. Zuhause wurde ich jeden, jeden, jeden Tag beschimpft. Ich konnte nichts recht machen und machte ich etwas, dann war das falsch. Ich war ein Vollidiot. Unselbstständig und dumm. Ich lernte neue Leute kennen, die Drogen nahmen und fing selber an Drogen zu nehmen. Das erste Mal in meinem Leben konnte ich soetwas wie Geborgenheit und Sicherheit fühlen. Aber nur anfänglich. Wir kifften, dann irgendwann kam Kokain dazu und irgendwann einmal Heroin. Ich probierte es nur einmal, dann, am nächstem Tag bekam ich unerträgliche Schmerzen im Unterleib. Ich vertraute mich einem Mediziner an, welcher mich meines Drogenkonsums anklagte und schließlich anfing mich zu beschimpfen und mich mitsamt meinen unerträglichen Schmerzen heimschickte. Ich lag dann eine Woche zuhause uns wand mich nur noch vor Schmerzen. Ich konnte weder essen noch trinken. – und, meine lieben Eltern waren mal wieder ratlos und sahen immer mal nach mir. Ich rief meine “Drogenfreunde” an und sie brachten mich schließlich in eine Klinik. Diagnose: Akute Blinddarmentzündung.
Die Zeit danach war nicht einfach. Ich war wieder allein. Einige Male wollte ich mir das Leben nehmen aber im letztem Augenblick habe ich die Tabletten dann doch noch ausgewürgt. Jetzt muß ich doch beinahe etwas lachen: meine Mutter fand heraus, daß ich “Haschisch spritzte..” und sprach, nachdem sie auf mich eingeschlagen und mich wüst beschimpft hatte..wie ich ihr das nur antun könnte, zwei Wochen kein einziges Mal mit mir. Nur diese Blicke, gegen die ich mich nicht wehren konnte und Broschüren über Drogenkonsum, welche ich ihr nahebringen wollte, im Mülleimer.
Ich schaffte es nicht aus meinem Eltenhaus zu fliehen. Zu schwach fühlte ich mich, zu unsicher, zu dumm. Ich lernte neue Menschen kennen,Freunde, sie waren so viel gebildeter als ich aber das erste mal hatte ich das Gefühl, mich austauschen zu können.. Ich entschloß mich also auch mich “bilden zu lassen”. Ich machte in zwei Jahren die Mittlere Reife und in einem Jahr dann auch gleich die Fachhochschulreife. So. Besser fühlte ich mich aber nicht. Zuhause war alles wie immer, meine Zeugnisse waren nicht gut genug und ohnehin wäre es besser, wenn ich einen “richtigen” Beruf erlernen würde und heiraten würde.
Ich fühlte mich dumm und überfordert und bewarb mich sinnlos für einige Studiengänge. An einigen Hochschulen wäre ich sogar genommen worden. Ich ließ es, und montierte “lieber” Autositze zusammen, verkaufte Schuhe, schweißte Rahmenträger. Da war ich schon dreiundzwanzig und wohnte immer noch bei meinen Eltern. Ich ließ die täglichen Demütigungen über mich ergehen, da ich ohnehin allein nicht lebensfähig war und auf die “Hilfe” meiner Eltern angewiesen zu sein glaubte.
Dann: entdeckte ich meine Kamera, welche mein Bruder mir zum 15-ten geschenkt hatte. Ich fing an zu fotografieren. Das erste Mal fühlte ich bewußt Leben in mir. Ich fand auch einen Job in einem Fotoladen und zog in eine Wohngemeinschaft. So einfach war das. Ich tat es und meine Eltern (Mutter) terrorisierten mich täglich mit Anrufen, wochenlang, ja monatelang teilten sie mir mit, wie unselbstständig ich doch sei und daß, das versicherten sie mir, ich es niemals(!) allein zu etwas bringen würde. Gleichzeitig fingen sie an, mir Geld zuzuschieben, welches ich n! ach anfänglichen Schwierigkeiten auch annahm. Es war bisher die schönst Zeit in meinem Leben. Süß und bitter.
Ich hatte Beziehungen, mein idealgewicht, Leben. Ich experimentierte, fotografierte. Wurde gemocht. Ja manchmal geliebt. Ich konnte bedingungslos lieben, das war bisher die schönste Erfahrung in meinem Leben. Dann:
lernte ich U. kennen. Er besaß so einfach diese Eigenschaften: diese Selbstverständlichkeit zu Tun, zu Sein,so selbstverständlich zu sein, erfolgreich sein und gleichzeitig sich selbst leben ohne Vorbehalte, daß er mich faszinierte. Wir verliebten uns, ich zog zu ihm.
Dann fiel die Tür wieder zu.
Es folgte die Besagte “Zahnpastatube”. Ich verhielt mich oft wie meine Mutter. Tadelte, schimpfte; aber in Wirklichkeit wollte ich “nur” geliebt werden, für das, was ich bin. Er ignorierte meine Gefühle. Lebte Sein Leben, und ich hatte entweder die Möglichkeit mitzugehen, oder nicht. Ich wurde schwanger. Ich trieb ab. Er war dafür. Ich wurde wieder schwanger, trotz Verhütung. Diesmal war es anders. Ich litt, hatte Selbstzweifel (wie immer ). Er liebte mich nicht. Ich liebte meinen Bauch nicht, erbrach schon nach einem Schluck Wasser… und ich hatte Angst: unvorstellbare Angst. Diesmal war es Ernst. Ich konnte einem hilflosen Kind, einem kleinem “Spatz” nicht meine Angst vor dem Ungewolltsein, diese Unsicherheit, die ich fühlte und diese absolute Hoffnungslosigkeit auf den Weg geben. Mir laufen jetzt wieder erbarmungslos die Trähnen, während ich diese Zeilen schreibe. Darum schreibe ich hier nicht weiter, das hätte ohnehin keinen Sinn diesen Schmerz mit den wenigen Worten dieser Sprache zu vermitteln…
Jetzt bin ich 34. Lebe in einer Wohnung, die ich mir ausgesucht habe und als eine Wohngemeinschaft bewohne. Ich erlernte den Beruf der Werbefotografin, während ich schwanger war; damals; arbeitete dann als kassiererin in einem Supermarkt ! und bin jetzt wieder arbeitslos. Mehr Kraft kann ich derzeit auch nicht aufbringen. Ich bin wieder dick. In meinem Freundeskreis gibt es Frauen, welche Kinder haben. Es erstaunt mich, daß mich diese Kinder, obwohl ich nichts tue, mich zu mögen scheinen. Manchmal fühle ich mich in deren Gegenwart befangen, da mich ihre Leichtigkeit verunsichert. Und ich denke dann, entsprechend offen darauf reagieren zu müssen. Statt dessen stelle ich Fragen an diese Kinder und gebe damit zu, unsicher zu sein. Ich frage, warum die Drachen böse sind und was blöd ist am zimmeraufräumen. Das ist sicher dumm von mir, aber vielleicht wäre ich das auch gerne gefragt worden.
Meine Mutter ruft mich ständig an. Als ich noch in einer fern gelegenen Stadt wohnte, hielt sich das in Grenzen. Jetzt, seit ich keinen Partner habe ruft sie beinahe jeden Tag an. Sie ist alt, Herzkrank, Diabetes und Schilddrüse. Hat vier Beipässe und ich wünschte, sie würde sich mehr mit meinem Vater beschäftigen, als mit mir. Aber ich war schon immer ihr “augenschein”. Immer zur Stelle, wenn sie mich brauchte(!). Neulich meinte sie zu mir, ich würde sie doch pflegen, wenn sie selbst sich nicht mehr versorgen kann. Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete, aber das werde ich sicher niemals tun. Es wäre jetzt so einfach für mich, ihr das zurückzuzahlen, worum sie mich betrogen hatte. Aber das werde ich nicht tun-es würde mir dadurch auch nicht besser gehen.
Nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe hatte ich , währenddessen ich las, den absoluten Wunsch, diese alte Frau zu verlassen.
Jetzt kann ich nichteinmal mehr innbrünstig hassen. Lieben kann ich sie allerdings auch nicht. Vielmehr empfinde ich eine sich stets wechselnde Mischung aus Wut, Mitleid, Trauer.
Zwar wünschte ein Teil in mir immer noch eine Form von Akzeptanz, ja Zuneigung. Aber jegliche Gefühle Ihrerseits (meiner Mutter) äußern sich immer mehr in der Verzweiflung mir gegenüber, nun doch noch ein bisschen Zuneigung von mir zu erhalten. Beinahe ist sie sanftmütig geworden, möchte mir helfen und fragt wie es mir geht. Aber sobald ich eine, ihr zuwillen vorgekaute Antwort beginne zu formulieren, entzieht sie sich dem Gespräch. Ich fange nun an zu begreifen, daß sie niemals, bis zu ihrem Tode nicht hören will, wie es mir , und ihr geht.
Was soll ich nun mit mit dieser kleinen Frau anfangen? Ich spüre so sehr ihr Bedürfnis nach einer Person, die ihr bedingungslose Liebe geben kann. Auf der anderen Seite muß ich mich selbst retten und habe wahrlich nichts mehr zu investieren frei. Welchen Zwischenweg kann ich finden um mir selbst gerecht zu werden, sie aber nicht mehr hassen zu müssen? Und mich vor allem nicht mehr so schuldig und verpflichtet zu fühlen? – Obwohl ich nunmehr weiß, ich keine liebe von ihr erwarten kann, sagt mir ein Gefühl, ich kann sie nicht so ganz stehen lassen. Sie ist eigennützig, bezüglich mir. Ich meine damit daß sie nicht WEIß, im Vergleich zu mir. Und daß sie noch schlechter dran ist, als ich weil sie nicht wissen will und es nicht verstehen kann. – Dennoch. Nicht, nur, weil ich mir immernoch liebe von ihr erhoffe..vielleicht schwindet diese Hoffnung allmählich aber: weil es schade ist um einen Menschen, der niemals Liebe erfahren durfte. Ich kann das nur sagen, da ich mir meines Herzens sicher bin, diese Liebe irgendwann zu erfahren, indem ich Licht in mein persönliches Objektiv lasse ohne zu zoomen oder zu verfälschen mein eigenes Leben gestalten kann.
Aber ich brauche Hilfe. Ich fürchte mich vor einer Therapie, weil ich dann wahrscheinlich wieder an diesen Punkt gedrängt werde, ihr verzeihen zu müssen, so kurz vor Ablauf der Kostenerstattung von der Krankenkasse.
Angst ist etwas, was ich mein ganzes Leben lang fühle. Ich merke es nichteinmal mehr und kann sie auch schwer benennen. Selten, sehr selten fühlte ich mich wohlig.
Ich schicke diese Zeilen jetzt ab, so, wie sie sind. Wenn ich das nicht tue, so glaube ich, platze ich förmlich in mir zusammen.
Vielleicht könnten Sie mir zurückschreiben, denn selbst das Gefühl von Jemand in diesem Schmerz wahrgenommen zu werden, würde schon ausreichen.
b

AM: Ich kann verstehen, dass Sie erbrechen müssen, wenn Sie meine Bücher lesen, denn diese scheinen Ihnen einen Weg zu weisen, den sie so sehr fürchten: nämlich das kleine Mädchen, das Sie einst waren und das erbarmungslos geschlagen wurde, in die Arme zu nehmen und es vor den grausamen Eltern zu schützen, es von ihnen wegzubringen. Und nie mehr meinen, Menschen lieben zu müssen, die dieses Kind (Sie selbst, für das nur Sie jetzt verantwortlich sind), so schwer verletzt haben. Dieser Schritt macht Ihnen Angst, aber diese Angst ist ja noch die Folge der Schläge und schwerer Misshandlungen, die Sie erlitten haben. Wer hätte keine Angst mit dieser Geschichte? Gegen diese Angst können Sie aber etwas tun.
Wenn Sie “Die Revolte des Körpers” schon gelesen haben, dann lesen Sie noch meine letzten Artikel auf dieser Webseite (über Schuldgefühle, Depression, der längste Weg etc), aber auch die FAQ Liste, falls Sie sich doch noch für eine neue Therapie entschließen. Sie können Ihrer Mutter nicht helfen, nur sie allein könnte das, WENN SIE WOLLTE: Und Sie dürfen das Kind, das unter ihr und dem brutalen Vater so gelitten hatte, nicht mehr verraten, wenn Sie Ihr Leben sinnvoll leben wollen. Denn dieses Kind hat niemanden außer Ihnen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet