Einmischung
Sunday 29 October 2006
Liebe Frau Miller,
Ihre Bücher “Am Anfang war Erziehung”, “Du sollst nicht merken” und “Das Drama des begabten Kindes” stehen seit 1979 in meinem Regal. Ich habe damals aber nur “Am Anfang war Erziehung” angefangen zu lesen, dann wurde ich schwanger, und da mich das Buch so sehr aufwühlte, habe ich nicht darin weitergelesen, wollte Ihre Bücher aber in all den Jahren doch noch lesen, habe sie sogar weiterempfohlen, aber erst vor zwei Tagen habe ich nun endlich “Das Drama des begabten Kindes” angefangen zu lesen und es heute beendet, nach 27 Jahren!
Ich fand das Buch sehr interessant, es hat mich stellenweise aufgewühlt, Erinnerungen an meine Kindheit zurückgebracht, vielleicht oder wahrscheinlich wären meine drei Kinder etwas anders gediehen, wenn ich Ihre Bücher früher gelesen hätte. Ich habe sehr viel falsch gemacht. Aber ich kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Glücklicherweise habe ich selbst keine Depressionen, leide vielleicht nur ein kleines Bisschen an Größenwahn. (Deshalb vielleicht diese Mail!)
Aber ich muß so sehr an eine gute, liebe, hochintelligente, witzige Freundin denken, die eine ebenso liebe, hochintelligente kleine Tochter hat. Wie gesagt, ich schätze diese Freundin sehr, aber wenn ich sie in Gegenwart ihrer Tochter erlebe, kriege ich jedesmal fast Magenkrämpfe, weil sie so häßlich zu ihrem Kind ist. Die Mutter fühlt sich überfordert, hat das Gefühl, mit ihrer Karriere zu kurz zu kommen, und hat wahnsinnnige Ansprüche an das Kind, z.B. darf das Kind sich in seiner Designerkleidung im Kindergarten nicht schutzig machen (in der heutigen Zeit!), olle Klamotten sind für die Mutter inakzeptabel.
Und das Kind (6 Jahre) ist so süß und phantasievoll! Gerade ist es eingeschult worden. Horror! (Ich habe bei meinen Kindern die Schulzeit als Horror erlebt, jedenfalls bei meinen Söhnen)
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich möchte mich so gerne einmischen und meiner Freundin Bescheid sagen, aber ich glaube nicht, dass das was nützen würde. Gestern hat sie mich zufällig bei der Lektüre Ihres Buches gesehen und interessiert gefragt. Ich habe ihr gesagt, wie gut es sei, habe versucht, in wenigen Sätzen über den Inhalt zu sprechen (was mir nicht gut gelungen ist), und daß ich auch hin und wieder an sie dabei gedacht habe. Aber ich merkte, wie sie sich SOFORT unmerklich zurückzog. Ein heikles Thema also.
Liebe Frau Miller,
eigentlich erwarte ich nicht wirklich, daß Sie mir wie eine Kummerkastentante auf diese Meil antworten. Manchmal tut es nur gut, etwas loszuwerden, indem man es jemandem schreibt.
Ich werde meine Freundin auf jeden Fall in der nächsten Zeit ansprechen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie mich als besserwisserische Meckertante abstempelt, die ja selber massenhaft bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder falsch gemacht hat. Da sie aber so intelligent ist, wird es sie sicher wenigstens zum Nachdenken bringen, und das kann ja nie schaden.
Herzliche Grüße, Ihre E. F.
AM: Wenn Sie 27 Jahre gewartet haben, um das DRAMA zu lesen und es “interessant” zu finden, dann gab es dafür gute Gründe. Nun können Sie sich vielleicht vorstellen, weshalb Ihre Freundin nichts darüber hören will, zumindest vorläufig. Sie wird auch ihre guten Gründe haben, die sie nicht kennen will. Vielleicht wird sie mal etwas erleben, das sie zu dieser Lektüre bringt, vielleicht auch nicht. Man kann niemandem seine Wahrheit aufzwingen, wenn er sie nicht kennen will. Das bringt ja nichts. Der Körper Ihrer Freundin kennt doch ihre Wahrheit und wird sie schon mahnen, sich mit ihr zu beschäftigen, wenn der Moment gekommen ist.