Zurück zu den Eltern?

Zurück zu den Eltern?
Friday 07 December 2007

Liebe Alice Miller,
immer wieder taucht in meinem Bekanntenkreis die Frage auf, ob man, wenn man das Elend seiner Kindheit verarbeitet hätte, sich nicht wieder „innerlich distanziert“ mit seinen Eltern und Geschwistern treffen könne – denn es würde einem dann nichts mehr ausmachen. Ich verstehe, was sie sagen wollen, aber WOZU???
Mein ganzer Körper sträubt sich gegen diese Vorstellung!! Ich verspanne mich und habe sofort wieder das Gefühl, unter massivem Druck zu stehen und mich verleugnen zu müssen. Zumindest meine Eltern haben sich nicht im allergeringsten verändert, nie ein Wort der Einsicht und Reflektion. Ein Leben lang haben sie auf mir herumgehackt und das auch noch geleugnet. Als mein Mann zur Kur musste, war natürlich ich daran schuld, weil ich bösartig und ein schlechter Charakter war.
Warum also sollte jemand den Kontakt mit diesen Leuten wieder aktivieren, die sich niemals ändern werden und wo zumindest ich, dank Ihrer Bücher, die Hoffnung darauf aufgeben konnte. Meine Kindheit und Jugend haben sie mir gestohlen, mein zweites Leben wird mir niemand nehmen.
Nur: Warum soll ich sie dann nach Meinung vieler wieder sehen? Weil ich einige wenige gute Erinnerungen an sie habe – und, wie einige meinen, wenn ich alles wirklich überwunden hätte, mich dann ohne die schrecklichen Gefühle mit ihnen treffen könne? Ich glaube, meine Bekannten haben selber ein Problem.
Ansonsten haben alle ihre Bücher eine so große Bedeutung für mich, dass Worte es nicht ausdrücken können.
Danke! B. V.

AM: Ich teile vollkommen Ihre Meinung, und alle Ihre Argumente leuchten mir ein. Wenn man durch die Therapie gelernt hat, was man nicht mehr ertragen kann und worunter man so lange gelitten hat, ohne es zu merken, weshalb soll man sich wieder zwingen wollen, dass „es einem nichts ausmacht“. Da würde ja das Theater wieder anfangen und der Körper wieder mit Symptomen reagieren. Wer nach einer solchen Arbeit Lust hat, sich alles wieder zu verderben, der steht immer noch unter dem Zwang, sich belügen zu müssen. Einmal zurück eroberte Sensibilität begleitet einen sein Leben lang – zum Glück. Das ist ein großer Schatz, den man nicht wegwerfen sollte.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet