Der Film “Das weisse Band”

Der Film “Das weisse Band”
Friday 16 October 2009

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Liebe Alice Miller,

ich habe mir gestern im Kino den Film “das weisse Band” von Michael Haneke angeschaut nachdem ich zuvor in einigen Rezessionen gelesen habe es handele sich um einen Film über den Vorabend des Faschismus in Deutschland nach Ihrer Analyse. Genau das tut er.
Ich finde er hätte auch nach Ihrem Buch “Am Anfang war Erziehung” benannt werden können.
Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus war ich am Ende der 140min fast gewillt zu sagen: seitdem hat sich nicht viel verändert.
Damit würde ich aber wohl zuviel von meiner Geschichte auf die der Gesellschaft schliessen was ich so natürlich nicht kann.
Die Szenen wie Kinder von ihren Eltern geschlagen, misshandelt und missbraucht werden und sie diese schlimmen Erfahrungen dann an andere schwächere Kinder weitergeben, kannte ich so gut dass ich kaum geschockt war.
Ich sah die Realität meiner Kindheit die ich mehr als 70 Jahre später an fast gleicher Stelle erlebte.
Wie die Mechanismen sich gehalten haben, teilweise aber schon reformiert wurden und sich in einem sicherlich sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Umfeld entwickeln.
Für mich war der Film eine weitere Bestätigung darüber dass es wahr ist das in vielen Familien,aber auf jeden Fall in meiner- grausame Handlungen stattfanden über die dann später geschwiegen wird, Schweigen verlangt wird. Handlungen die -unreflektiert- dann weitergegeben werden .
Ich bin überzeugt dass fast jeder Betrachter mit einer direkten verwandschaftlichen Verbindung in diese Zeit an manchen bis vielen Momenten des Filmes Szenen aus seiner Kindheit oder die seiner Eltern wieder erkannt hat.
Wie das dann interpretiert wird ist natürlich auch unterschiedlich.
Einen entsetzten bis gestressten Gesichtsauszug zeigte ein älteres Päärchen als ich den Kinosaal verließ und ich schnappte den Begriff einer “völlig übertriebenen Darstellung” aus ihrem Gespräch auf.
Äusserlich fast zu vergleichen mit der Reaktion des brutalen Pfarrers in dem Film als er damit konfrontiert wurde dass seine viel gezüchtigeten Kinder im Verdacht stehen andere Kinder gequält zu haben.
Eine direkte Verweigerung der eigenen Wahrheit, die auch in vielen Kommentaren zu Rezessionen des Dramas auf den Internetseiten der Tageszeitungen zu erkennen ist.
Für mich war das Betrachten auch etwas besonderes.
Vor einiger Zeit als ich noch keine Therapie gemacht hatte und viele Erfahrungen aus meiner Kindheit/Jugend ausgeblendet waren spürte ich bei vielen Filmen mit ähnlichen Bildern teils heftige körperliche Reaktionen, musste weinen, bekam Schmerzen, Angst und konnte mir das nicht erklären.
Dann begann ich vor 4-5 Jahren Ihre Bücher zu lesen, zog die Konsequenzen hinsichtlich meiner Beziehungen zur Familie und wagte mich an meine Traumas mit Unterstützung von Freunden und Therapeuthen. Ein schmerzhaftes Unterfangen dessen Früchte ich erst langsam zu ernten beginne.

Mein grösster Traum ist es das sich noch viele Menschen ehrlich mit sich selbst auseinandersetzen so dass eine emotionale Dynamik entsteht und Mitgefühl ein richtiger Trend wird.
So stark dass selbst die Eltern und Politiker merken dass sie als Kinder selbst zu den empathielosen ErzieherInnen wurden die sie heute sind und dann merken dass es Auswege gibt und sie Bereitschaft entwickeln diejenigen Menschen, über dessen emotionale Gesundheit sie Verantwortung besitzen, aus ihren eigenen Zwängen zu entlassen.
(Ich hab mich aber darauf eingestellt dass ich das im Grossen kaum erleben werde)

Was für einen langen Weg die Menschheit gehen musste um solch einen Film über sich zu produzieren,- toll dass er jetzt für die wichtigste aller Diskussionen sorgt und vielen Dank dass Sie durch das Aussprechen der Tatsachen schon vor vielen Jahren dazu beigetragen haben haben den Weg für eine Zukunft der Menschlichkeit zu ebnen Alice.

lG M.

AM: Was Sie über den Film schreiben, ist vermutlich richtig: Es hat sich leider nicht viel verändert seitdem. Es ist gut, dass die Menschen einen Spiegel bekommen, weil die meisten sich weigern hinzuschauen. Doch einige werden vielleicht wie Sie den Mut finden, die Grausamkeiten und Absuditäten ihrer eigenen Erziehung dank diesem Film wahrzunehmen. Ich habe den Film noch nicht gesehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet