Ich kann es nicht glauben
Wednesday 11 June 2008
Sehr geehrte Frau Miller,
liebes Team –
vor geraumer Zeit antworteten Sie auf meine Frage nach fehlenden Erinnerungen und verunsichernden Träumen : die Träume sind Erinnerungen.
Inzwischen glaube ich auch, daß sie Erinnerungen sind, aber doch wohl an eine vorsprachliche Zeit. Viele von ihnen waren schrecklich – doch meistens symbolisch. Inzwischen bin ich am Ende einer Therapie angelangt, weil die Krankenkasse nicht weiter bezahlt; mein Therapeuten kommertiert meine Träume nur am Rande und sagt, ich würde noch immer von meinen Eltern beherrscht – als wenn ich das nicht selber wüßte. Der Therapeut meint allerdings auch, daß man mit 60 oder 80 genehmigten Sitzungen nicht den Schaden einer ganzen Kindheit und Jugend und was dem folgte, aufarbeiten könne.
Meine „symbolischen“ Träume, die mich über Jahre verfolgten, haben abgenommen – so mußte ich z.B. immer wieder ein sterbendes Kind retten, und keiner half mir dabei. Oder ich erbrach Holz-, Glassplitter, rostige Eisenkleinteile, Angelhaken in Unmengen…
…in den letzten Monaten wurden die Träume aber grausam konkret: und ich stehe ihnen wie ausgeliefert gegenüber; sie behindern auch mein Alltagsleben weil ich beständig darüber nachgrübele.
Im „harmlosesten“ Traum sitze ich als Kind hinten im Auto; mein Vater fährt, meine Mutter auf dem Beifahrersitz. Plötzlich dreht sie sich um und öffnet während der Fahrt die Tür, so daß ich hinausfalle, ohne daß sie irgendwelche Anstalten zu meiner Rettung unternimmt. Dann schließt sie die Tür; meine Eltern fahren ungerührt weiter.
Im nächsten Autotraum sitze ich als Vorschul-Kind vorne neben meinem Vater; meine Mutter hinten und beobachtet uns genau. Der Vater verlangt von mir, daß ich meine kleine Kinderhand zwischen seine Beine stecken soll. Meine Mutter schaut dabei zu; ungerührt, wie gelähmt.
In einem anderen Traum gehe ich durch meine ausgestorbene Heimatstadt; dort lebt niemand mehr als mein Vater (er ist inzwischen Witwer). Ich flüchte mich zu ihm, weil ich die Einsamkeit in der Stadt nicht mehr ertrage, komme in seiner menschenleeren Wohnung an, aber er beachtet mich nicht, sondern wendet mir den Rücken zu. Von hinten betrachtet, sehe ich seinen virbrierenden Arm, es ist, als ob er masturbiere. Ich gehe um ihn herum und erkenne: er versucht seine rechte Hand mit der Linken zu verbergen; tatsächlich ist seine Rechte abgehackt. Er erklärt mir ungerührt, er habe das selbst getan, wie unter Zwang. Dann nimmt er die bergende Linke zur Seite: es ist wie in einem surrealen Horrorfilm fast wie bei Bunuel; die blutende Wunde am Handgelenk ist die sprechende Vagina meiner Mutter, die redet und redet und redet – ich wache zutiefst geschockt auf.
Aber selbst dieser Schocktraum wurde getoppt:
Meine Mutter verlangt voller Zorn von mir, ich solle meinen Vater töten; ich bin in dem Traum wieder ein acht- oder neunjähriges Kind. Ich weigere mich: wie kann ich meinen Vater töten? Wie kann ich überhaupt einen Menschen töten. Meine Mutter lacht nur auf: „Du wirst schon sehen!“ Da stürmt mein Vater mit einem Mordmesser herein und sticht auf mich ein – ich blute aus vielen Wunden, will das Messer abwehren, greife in die scharfe Schneide, die sich für Augenblicke in den Penis meines VAters verwandelt, dann wieder zurück zum Messer. Meine Mutter beschimpft mich, ich sei ein Versager und eine Memme und fordert meine Schwester auf, den Vater zu töten. Auch sie weigert sich zunächst… dann dreht sich meine Schwester, die ich bisher nur von hinten sehe, um; es ist gar nicht meine Schwester, sondern ihre inzwischen 14jährige (im Leben sehr sanfte und warmherzige) Tochter, meine Nichte. Sie sticht auf unseren Vater, ihren Großvater ein…ich erwache. Keine Frage, daß ich in dieser NAcht ins Grübeln über das ganze Oidipus-Konstrukt von Freud verfiel…
Und der letzte Traum, der mir schlaflose Nächte bereitet: ich schlafe in meinen Zwanzigern auf dem Sofa im Wohnzimmer meiner Eltern (was ich nie getan hätte und auch nicht habe). Selbst im Traum weiß ich, ich muß hier weg. Die Tür wird einen Spalt geöffnet: ich erkenne einen grausam und nachlässig bandagierten Kopf; blutige Verbände, voller Eiter. Im Augenblick denke ich: LUPUS (ich sage das sogar im Traum – Wolf -); es ist meine Mutter, überzogen von leprösen Schwären. Sie bittet herrisch und gleichzeitig weinerlich-jammernd um Hilfe. Abscheu und Mitleid durchzucken mich einen Moment; der scheint meiner Mutter wohl zu lang zu geraten, Schaum vor dem Mund, voll räuberischer Gier springt sie mich an wie ein Wolf (so ist also das Wort LUPUS, das ich da träumte, nicht nur ein altmodischer medizinischer Begriff); ihre Hand stößt wie ein Schwert zwischen meine Beine und packt mein Geschlechtsteil, um es nicht wieder loszulassen; sie drückte es fest und schreit dabei bestialisch, als müsse sie sterben… Beim AUfwachen fühle ich mich attackiert, aber auch schuldig. Wie kann ich meiner Mutter nur soetwas unterstellen!? Man kann sich denken, welche Verstörung diese Träume bei mir hinterlassen.
Natürlich kann ich sie bewerten, als BIldgeschichten böser Attacken auf mich und meinen Körper, auf mich und meine Sexualität. Als Bildgeschichten der schwer gestörten Sexualität meiner Eltern.
Sie liefern mir auch Begründungen dafür, weshalb es mir in meinem Leben nicht möglich war, eine Beziehung, geschweige denn, eine Partnerschaft aufzubauen. Denn Angst und Ekel und Scham beherrschten jeden gescheiterten Versuch, der über das Verliebtsein von Ferne nie hinwegkam.
Und dennoch überkommt mich eine abgrundtiefe Scham und Angst, daß ich meinen Eltern Unrecht tue.
Gleichwohl zeigte uns ja der jüngste Fall in Österreich, zu was Eltern in der Lage sind und sich dennoch für edle und warmherzige Menschen halten.
Leider kann ich meinem Therapeuten nicht mehr von den Träumen berichten – ich habe sonst auch keinen Menschen, mit dem ich darüber sprechen könnte. Manchmal denke ich, darüber könne man verrückt werden.
Ich bin sehr froh, daß ich sie wenigstens hier mitteilen kann. Gewiß werden Sie mir in meinen Deutungen zustimmen, aber dennoch frage ich mich noch immer, was ist da bloß in meiner Kindheit geschehen, an das ich mich nicht konkret erinnere, aber das mir so schreckliche Träume bereitet; noch vier Jahrzehnte später?
Vielen Dank für Ihre Mühen und Ihre Arbeit.
AM: Ihre Träume zwingen Sie, die Perversionen Ihrer Eltern zu sehen, die Ihr Leben behindert und beinahe zerstört haben. Doch Sie weigern sich immer noch, diese Wahrheit zu sehen und Ihren großartigen Träumen zu glauben. Sie fühlen sich sogar schuldig, dass Sie „sowas“ überhaupt denken können. Dafür bestrafen Sie sich ununterbrochen und behandeln sich so grausam wie Ihre Eltern es taten. Ihren berechtigten Zorn richten Sie gegen sich. Wenn Sie diese Schuldgefühle eines Tages ablegen, Ihren Träumen endlich glauben können anstatt ihnen zu misstrauen (wer hätte denn ein Interesse diese entsetzlichen Szenen zu ERFINDEN?), dann werden Sie Ihren ZORN auf Ihre Eltern FÜHLEN können und GESUND leben dürfen. Sie brauchen sich dann nicht länger mit der Krankheit für die Wahrheit zu bestrafen, die Ihre Eltern verbergen wollten. Aber das Kind in Ihnen zwingt Sie, zum Glück, diese Wahrheit zu leben. Nehmen Sie es ernst.