Grausame, gefährliche Eltern

Grausame, gefährliche Eltern
Monday 28 November 2005

Sg. Frau Miller,

Ich wurde eben von meiner Schwiegermutter auf Sie und Ihre site aufmerksam gemacht.
Ich kämpfe seit Jahren um die Lösung meiner Probleme.
Ich habe Ihre Site nur überflogen, aber ich habe selten eine so präzise Schilderung meiner Probleme gefunden.
Ich bewege mich genau in diesem Sumpf der unerlaubten Gefühle.
Ich recherchiere seit Jahren die Wahrheit über meine legendenreiche Familie, deren Ideenreichtum durchaus mit der Familiengeschichte Hitlers konkurrieren kann.
Ich verstehe zum ersten mal, warum mein Vater und wohl auch schon mein Grossvater Hitler toll fanden.
Beide waren keine Nazis, aber sie waren beide von der Person Hitlers fasziniert.
Warum wohl….Und beide sind sie an ihren Erinnerungen und Schäden innerlich zerbrochen.
Mein Vater war mit zunehmendem Alter stolz darauf, seinem Vater immer ähnlicher zu werden.
Mein Gott – er war in allem, was er tat, 150 Jahre, also 4 Generationen alt….

Meine Schwiegermutter hatte mich im Zusammenhang mit einem Erbstreit auf Sie aufmerksam gemacht.
Der seit 2 Jahren mit zunehmender Härte tobt.
Der Tod meines Vaters bewirkte genau das, was bei Klara Hitler passiert ist.
Ich sollte tatsächlich meinen Vater idealisieren.
Ich werde das niemals tun, genausowenig wie ich ihn verteufeln kann, da er eben auch mein Vater ist, der mich misshandelt hat.
Das Ringen um meine echte Identität dauert an.
Je weiter ich in die Vergangenheit zurückgehe, desto klarer bestätigen Sie meine mühsamen, immer wieder schwankenden Einsichten. 2 Schritte vor, einen zurück.
Familien mit durchgehender Grausamkeit und vielen Regeln basieren genau auf diesem Schema, das Sie beschreiben.
Ich war immer so beschämt. Dass ich so peinlich war (bin).
Habe alles ertragen, es sogar auf direke Anfrage verneint.
Mit 18 habe ich aufbegehrt, und konnte nur deswegen „rausfliegen“, da ich eine kleine Wohnung heimlich angemietet hatte.
Ich habe mich so geschämt für alles.Ich hatte ja keinen, dem ich mich mitteilen konnte.
Heute macht es mich so wütend.
Ich verstehe nicht, wie eine Gesellschaft zusehen kann, wie in direkter Nachbarschaft ein Vater seine Familie teilweise tagtäglich schlägt.
Und wenn die Polizei gerufen wird, ist das dann „Streitigkeit in der Familie“.
Der stärkste Beschützer der Kinder verrät diese, vielfach und gleichgültig.
Eine Notiz im Protokollbuch des tages, die peinliche Familie x hat mal wieder angerufen, weil die ebenso peinliche Familie y die Nachbarschaftsruhe stört. Nun, sind ja nur 150m bis zum nächsten Haus. Ist trotzdem furchtbar laut. Und die böllern immer so unpassend rum (war aber ne Faustfeuerwaffe..).
Wie können Ärzte wegsehen, wenn eine Frau diverse Male schwanger, grün und blau eine Abortkürettage verlangt, weil sie so sehr blutet.
Und riesige Hämatome am Unterleib hat, die sie sich sicher nicht selbst beigebracht hat.
Und völlig durchgeknallt erscheint.
Und trotzdem “heimgeht”.

Meine ersten Erinnerungen beginnen mit Schlägen.
Festgebunden auf einem Hocker zapple und strample ich, etwa 2-3 Jahre alt, unter den Schlägen des Teppichklopfers.
Das fanatische dieses Wutausbruchs meines Vaters verfolgt mich noch heute.
Es ist nur das erste Mal in meiner Erinnerung.
Mutter steht daneben und schaut zu.
Sie hat mich immer verraten.
Und jetzt tut sie es wieder.
Beim Erbe.
Es ist so schwer zu begreifen, und noch schwerer, dagegen zu handeln.
Prägung. Pawlowsche Hunde, die wir sind.

Hunde – ich weiss nicht, wie oft ich zusah, wie mein Vater in sinnloser Wut die Hunde schlug.
Als ich 17 war, liess ich den Hund raus, und liess mich schlagen, weil ich es nicht mehr sehen konnte.
Der Hund unterwarf sich völlig, und trotzdem wollte mein Vater nicht aufhören.

Ich konnte mich nicht wehren, weil ich keinen Beschützer hatte.
Aber den Hund konnte ich wenigstens beschützen.
In der Hoffnung, dass ich auch mal geschützt werde.
In der Hoffnung, irgendwann alt genug zu sein, mich selbst zu schützen.
In der Erkenntnis, dass mir niemand hilft.
Weder mein Lebensalter, noch eine Institution, noch die Distanz.
Nun ist er tot – und immer noch da.

Heute habe ich eine Tochter.
Die Erziehung meiner Tochter ist in gewisser Weise Therapie.
Dinge, die ich früher nie in Frage gestellt habe, werden sehr fragwürdig.
Ich würde ein Kleinkind NIEMALS so schlagen können.
Ich würde auch einen Teenager nicht so misshandeln können.
Also war nicht ich schuldig, sondern mein Vater/Mutter.
Diese beiden haben die Hand gegen ein Wesen erhoben, dass sie erziehen und schützen und lehren sollten.
Nun, ein bisschen Liebe wäre auch nicht schlecht gewesen.
Echte Liebe, nicht der Spruch “Ich liebe Dich, deswegen züchtige ich Dich” – der Spruch, der vermutlich schon 4 Generationen alt ist. Den schon der Vater meines Vaters ihm, dem unehelich gezeugten, vorgelogen hat.

Und sie haben das Kind einfach schlimmer als Dreck behandelt.
Ich lese furchtbar viele Bücher über Erziehung und so weiter.
Warum?
Weil ich die Erinnerungen nicht als Erziehungsmodell benutzen kann.
Weil ich selber keine bessere Lösung kenne.
Weil ich erst lernen muss, was es heisst, einem Kind Liebe zu zeigen.
Immer wieder neu.
Weil ich immer wieder neu lernen muss, mein Kind zu lieben, nicht zu hassen.
Weil ich es liebe.
Weil meine Tochter toll ist – so wunderbar unverdorben.
Und trotzdem Grenzen braucht.
Aber keine Gewalt.
Und ich lernen muss, sie zu erziehen. Mit Liebe.

Mein Partner wird duch die Beziehung an die Grenzen des Machbaren gebracht.
Ich muss lernen, einem Mann zu vertrauen.
Ich kann es nicht.
Ob ich es lernen kann, weiss ich nicht.
Aber ich versuche es.

Ich benutze ein Pseudonym.
Ich gehöre zu den von Ihne zitierten Akademikern, die die häusliche Gewalt seit Generationen decken, bagatellisieren und vertuschen.
Es ist mir peinlich.
Aber es ist wahr.

A.M.: Sie schreiben:“Der Tod meines Vaters bewirkte genau das, was bei Klara Hitler passiert ist. Ich sollte tatsächlich meinen Vater idealisieren. Ich werde das niemals tun, genausowenig wie ich ihn verteufeln kann, da er auch mein Vater ist, der mich misshandelt hat.”
Diesen letzten Satz könnten Millionen von Menschen genauso schreiben, weil sie nicht glauben können, dass ihre Eltern grausame und gefährliche Menschen waren. Sie fürchten sich immer noch vor den teuflischen Taten ihrer Eltern, weil ihr Körper diese nicht vergessen kann; aber ihr Bewusstsein weigert sich, die Realität zu sehen. Für diese Blindheit bezahlen sie mit Krankheiten. Es ist gut, dass Sie Ihren Brief geschrieben haben; das ist der erste Schritt zur Befreiung von der kindlichen, körperlichen Angst. Vielleicht finden Sie auch Hilfe in der Lektüre meines letzten Artikels auf dieser Webseite (über Schuldgefühle) und des Buches “Die Revolte des Körpers”, 2te Auflage, TB 2005. Vergessen Sie nicht das Bild vom 2-3 jährigen Kind, das Sie schildern. Das kann Ihnen helfen, Ihre Integrität wiederzugewinnen. Sie sind auf dem besten Weg dazu. Den Mut haben Sie ja.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet