Wut und Zorn

Wut und Zorn
Thursday 19 April 2007

Es tut mir gut, zu sehen, dass mittlerweile auf der Alice Miller-website kritisch über PRI geschrieben wird. Es wäre an der Zeit! Selbst habe ich unterstehenden Brief schon vor einem Jahr geschrieben, ihn aber nicht verschickt, weil es noch eine rohe Version war und ich später nicht mehr dazu kam ihn fertig zu machen. Jetzt möchte ich ihn doch noch gerne an Sie senden, weil ich glaube, noch einiges Substantielles beizutragen zu haben.
Sie dürfen ihn so abdrucken, wenn Sie möchten, aber ich bin auch bereit, eine englische Version her zu stellen, weil die holländischen Leser eigentlich immer im englischen schreiben -und lesen.
vielen dank, S. V.

Vor zwölf Jahren haben Sie ein Vorwort zu Jean Jensons Buch “reclaiming your life ” geschrieben. Es schien Ihnen damals ein sehr nützliches, vielleicht auch wichtiges Buch zu sein. Ich hoffte eines Tages eine Therapie machen zu können bei Frau Jenson – die wie in meiner niederländischen Ausgabe stand, einige Male im Jahr nach Holland kam, um “intensive” Therapien von einer Woche an zu bieten – oder aber dann doch auf jeden Fall bei ihrer niederländischen “Vertreterin”, Psychologin Ingeborg Bosch, mit der Jean Jenson mittlerweile eine Zusammenarbeit hergestellt hatte.
In Holland hat Frau Bosch sich (meiner Meinung nach) mittlerweile aufgeworfen als die meist prominente Vertreterin Ihrer (Alice Millers) Ideen. Natürlich war sie an erster Stelle die “Vertreterin” Jean Jensons, und hat dann in Zusammenarbeit mit ihr die ursprüngliche “jenson-therapie” umgestaltet und ihr sogar einen neuen Name gegeben: “past reality integration” (PRI). Sie redet aber in ihrem (ersten) Buch, De herontdekking van het ware zelf (“Rediscovering the true self”) von Ihnen, Alice Miller, und schreibt darüber, wie wichtig Sie für ihre Entwicklung gewesen sind. (In der Presse wird sogar geschrieben “das Buch sei basiert auf Das Drama des begabten Kindes” und, in einer Rezension der holländischen psycho-analytischen Gesellschaft: “Es erscheint so, als gebe es eine direkte Beziehung zwischen Jenson, Ingeborg Bosch und Alice Miller.”) Meine Sorge ist jetzt, dass dies eine grosse Gefahr der Verwirrung beinhaltet. Und wohl darum:
Als ich letztlich Ingeborg Bosch’s Buch im Buchgeschäft durchblätterte (ich habe seit dieses Buch erschienen ist (2000) nicht das Bedürfnis gehabt es zu lesen, weil ich Jean Jensons Beschreibung ihrer Primär-Therapie ausreichend fand und mir nicht vorstellen konnte, es wäre absolut notwendig, da noch was dran rum zu basteln, und einige Blicke, die ich auf die pastrealityintegration-website warf, konnten mich auch sehr wohl nicht davon überzeugen, das neue “Konzept” würde etwas wirklich Substantielles hinzufügen.)
Nun aber, ich bekam das Buch in die Hand und wollte dann doch mal reinschauen. Es wird schon mit Empathie über das Leiden der nicht-geliebten Kinder erzählt. So fern war alles, wie erwartet, in Ordnung. Aber als ich zum Vorwort rückblätterte, da bekam ich eine (doch nicht wirklich grosse) Überraschung. Gleich am Anfang (!) fühlt Ingeborg Bosch sich ernötigt, mit zu teilen, dass sie die Eltern doch nicht beschuldigen wolle. Ja, sie haben “Fehler” gemacht, dennoch nicht absichtlich und schuldig können sie darum gar nicht sein. Ingeborg Bosch hat sich also offensichtlich, seit sie (die erste Ausgabe) des “Dramas” gelesen hat, nicht mehr – wie so viele – um Ihre Bücher gekümmert und ist also nicht weiter gekommen als zu der Meinung, die Sie, Alice Miller, damals – mehr als 25 Jahre her -, vertreten haben. Übrigens sagt sie dennoch mit grosser Zuversicht – wie Jenson in ihrem Buch – “man müsse die Eltern ja nicht verzeihen”. Solche Widersprüche können doch nicht anders als zu grossen Verwirrungen führen, – denn wieso braucht man Menschen, die nicht schuldig sind, “nicht zu verzeihen” ?! – und es ist mir schwer zu verstehen, wie sie diese Widersprüche in ihrer eigenen Psyche miteinander in Einklang bringen kann.
Aber das ist erst der Anfang der Verwirrung. Viel wichtiger ist es, dass sie die Untersagung der Beschuldigung zu einem der FUNDAMENTE der Therapie gemacht hat. Schon in Jean Jensons Buch hat sie 1998 eine Beilage (zusammen mit Jenson) geschrieben, worin sie Wut AUSDRÜCKLICH beschreibt als “ABWEHR”, als einen psychischen Schutz-Mechanismus, um nicht “den wahren Schmerz” fühlen zu müssen. Das hat mich damals schon ziemlich verwirrt. Mein Instinkt erzählte mir ganz klar, dass meine Wut eine SELBSTSTÄNDIGE Emotion sei, eine BERECHTIGTE Reaktion auf grosses Unrecht, und nicht “nur” ein “Abwehr-Mechanismus”, um ein anderes Gefühl nicht fühlen zu müssen. Ich fand dieses Konstrukt ziemlich abstrakt und eigentlich auch unsinnig. Ingeborg Bosch hat aber jetzt dieses Konstrukt in ihr eigenes Buch so weit durchgeführt, dass sie (übrigens buchstäblich) behauptet: wenn man immer noch Wut auf die Eltern spürt, heisst das, DASS MAN SIE IMMER NOCH ALS SYMBOL ERLEBT FÜR DIE ELTERN, DIE SIE IN DER KINDHEIT MAL WAREN, und, dass dies halt ein Zeichen sei, man müsse sich noch mit “tieferen” Gefühlen des Schmerzes auseinander setzen. Das Ziel der Therapie ist damit ganz klar: man soll (letztendlich) keine Wut mehr auf die (jetzigen) Eltern spüren. Es lässt sich fragen, warum dann noch versichert werden soll, man brauche den Eltern ja nicht zu vergeben – wie würde man es denn sonnst nennen, keine Gefühle von Hass und Ärger den Eltern gegenüber mehr zu empfinden?! Ich denke, Ingeborg Bosch meint, wirklich (emotional) erwachsen gewordene Menschen würden kein Hass auf ihre Eltern mehr empfinden. (Mmm, wo habe ich sowas schon mal gehört ?)
Dieses “zum Symbol machen” von anderen Menschen, funktioniert natürlich indertat so in der Übertragung bei bestimmten Menschen, die uns in unserem Leben begegnen (Das Thema Jean Jensons Buch eben) – obwohl ich mittlerweile auch ganz klar die Gefahr dieser Sichtweise erkenne, nämlich dass wenn man so denkt, man eigentlich nicht mehr adäquat – empört – auf aktuelle Übergriffe reagieren kann. Aber nunmal bei den Eltern sind diese Gefühle von Wut und Ärger am EINZIG RICHTIGEN PLATZ! Wieso SYMBOLE ?!? Es sind die richtigen Menschen von Fleisch und Blut, diejenigen, die einem all dieses Leid zugefügt haben! (Diejenigen übrigens auch, die uns NOCH IMMER, auch NACHDEM wir erwachsen geworden sind, mies behandeln und uns “schlecht” nennen, wenn wir ihre Wünsche nicht (mehr) erfüllen wollen!)
Es ist mir unbegreiflich, wie jemand so eine künstliche, theoretische Spaltung (die “damaligen” Eltern versus den “jetzigen” Eltern) entwerfen kann. Es ist, als hörte ich die Schlimmsten der Psycho-Analytiker argumentieren. Die Konstrukte “funktionieren” nur in der Theorie, mit einem lebendigen Menschen und seinen Gefühlen hat das meiner Meinung nach überhaupt nichts zu tun.

Holland ist natürlich nur ein kleines Land, und Sie können auch nicht wissen, was ausserhalb Ihres Sprach-Gebietes ablauft. Aber ich halte es für sehr notwendig, Ihnen davon zu berichten, weil Ingeborg Bosch und ihre “PRI-Therapie” doch ziemliche Popularität hierzulande geniessen und weil man auf der Website erfahren kann, “im Ausland gäbe es mittlerweile auch viel Interesse für PRI” ( Ingeborg Boschs’ erstes Buch wird 2005 in Französisch erscheinen) – und weil ich es sehr gefährlich finde, wenn die Wahrheit (über die Kindheit) vermischt wird mit Lügen. Denn wie man sagt: eine Lüge lässt sich am besten verstecken inmitten der Wahrheit. Und in diesem Fall ist die Wahrheit – das ist, die Art und Weise, wie über die Kindheit geschrieben wird – schon da, und das macht die Lüge umso gefährlicher, denn man übersieht sie so leicht.
Wie Sie geschrieben haben: die Anzahl der wissenden Zeugen ist schon klein genug. Diese Methode hilft eigentlich überhaupt nicht, sie zu vergrössern. Ich stelle mir vor, wie Frau Bosch an einen Patienten ranginge, der sein Wut nicht “loswerden” kann, auch nicht wenn er sich anstrengt (nur) traurig zu sein, wie von der Therapeutin verordnet. Trauer ist erlaubt, Wut dagegen ist zu gefährlich, um auf Dauer dazu stehen zu können. Es lässt sich vermuten, was dies über Ingeborg Boschs’ eigene Kindheitsgeschichte aussagt. Und was würde sie tun, wenn der Patient “starrköpfig” bleibt, seine Wut NICHT aufgeben will …..?
Wut ist Kraft. Pure, zügellose Kraft, eine kompromisslose Bereitschaft, zu sich selbst zu stehen und seine Ansichten und Bedürfnisse zu verteidigen. Trauer hat keine solche Kraft. Trauer macht eher kraftlos.
Aber es lässt sich befürchten, dass solche starrköpfigen Patienten eher selten sind. Die meisten wissen nur ganz wenig von ihrer Wut und werden sich wahrscheinlich nach den “erlaubten” Wutausbrüchen den Therapeutinnen fügen und die Wut, deren Kraft und Botschaften sie noch nicht einmal angefangen haben zu entdecken, mit dem “richtigen” Gefühl der Trauer “ersetzen”.
Aber ohne die Wut ERNST zu nehmen, bekommt man nicht das wirkliche Bild der eigenen Kindheit. Darüber besteht bei mir auf jeden Fall kein Zweifel.

S.V.

AM: Ich bin so froh, dass Sie meine Erklärungen über die Bedeutung von Zorn und Wut so schnell verstanden haben, weil diese Erkenntnis meistens gemieden, tabuisiert wird, gerade in Therapien, die noch in der schwarzen Moral stecken, weil sie der Allgemeinheit (die auch dort steckt) gefallen wollen. Die starke, befreiende und logische Emotion wird so lange gemieden, bis schließlich nichts mehr geht, weil der Betreffende nicht heilen kann, wenn er seine wahren, heilsamen Emotionen fürchtet und sie als Abwehr gegen das Gutsein versteht. Dann wird den Klienten die nebulöse Spiritualität angeboten, als Ersatz für die innere Leere, und alle meinen, dieses Wort zu verstehen, weil sie seit der Kindheit daran gewöhnt sind, sich so manipulieren zu müssen. Sie glauben, alles andere sei besser als die schlichte Wahrheit, dass sie als Kinder misshandelt wurden und dies in ihnen große Mengen von verdrängter Wut hinterlassen hat, von denen sie sich zwar befreien können, aber nur, wenn sie sie nicht mehr leugnen und ihre Berechtigung zu verstehen lernen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet