Im Spiel der Ausbeutung nicht mehr mitmachen

Im Spiel der Ausbeutung nicht mehr mitmachen
Friday 25 September 2009

Liebe Alice Miller,

ich habe gerade Ihr Buch „Die Revolte des Körpers“ zu Ende gelesen. Es
hat mir sehr gut getan, denn schon seit einigen Jahren setze ich mich
auf Grund meiner eigenen Betroffenheit mit der Frage auseinander, wie
viel Würde hat ein Kind in unserer Gesellschaft. So ist mir sehr klar
geworden, dass unsere Gesellschaft auf Doppelmoral (sie nennen es das
vierte Gebot) beruht und sich auch aus dieser immer wieder neu nährt.
Während einer ReHa-Maßnahme im Jahr 2005 habe ich an einer umfassenden
Befragung zu meiner Erkrankung teil genommen. Anschließend fand eine
gemeinsame Besprechung der Ergebnisse dieser Befragung mit meinem
zuständigen Therapeuten statt. Dabei kam für mich etwas sehr bedeutendes
zum Vorschein. Ich bin ein Mensch, den man auf ein äußerstes Maß
ausbeuten kann und zwar in jeder Hinsicht. Der Hintergrund war, dass ich
auf meiner Arbeitsstelle von meinem Chef gemobbt wurde, weil ich mich
gegen die zunehmenden Missstände wie Arbeitshetze, Leistungsdruck,
Flexibilisierung gewehrt hatte. Gleichzeitig musste ich auf Grund
psychischer Probleme meine Arbeitszeit verringern, da ich regelrecht
nervlich und körperlich am Ende war. Das Ergebnis war, dass mein Chef
mir bereitwillig die Verkürzung meiner Arbeitszeit von 30 auf 20 Stunden
in der Woche zu gestand. Doch ich musste jetzt die gleiche Arbeit, die
ich vorher in 30 Stunden zu leisten hatte, in 20 Stunden erledigen. Das
habe ich ein Jahr noch durchgehalten und dann war Schluss. Zum zweiten
Mal brach ich zusammen und hatte schwere körperliche Symptome wie
Schmerzen am ganzen Körper und Depressionen mit Angst- und
Panikattacken. Ich bekomme seit 2 Jahren eine Erwerbsunfähigkeitsrente.
Meine schweren traumatischen Erlebnisse in meiner Kindheit und Jugend
haben mich zu einem Menschen werden lassen, den man ausbeuten konnte und
teilweise heute immer noch kann, fast bis zur (Selbst-)Zerstörung.
Inzwischen habe ich einen Erkenntnisprozeß durchlaufen, der ihren
Erkenntnissen zu fast hundertprozent entspricht. Ich bin froh, ihre
Bücher zu lesen, sie wurden mir von meiner heutigen Therapeutin
empfohlen. Heute habe ich gelernt mit mir Geduld zu haben, mein inneres
Kind zu entdecken, anzunehmen und damit zu mir als erwachsene Frau zu
finden. Ich habe vor 5 Jahren den Kontakt zu meiner „Mutter“ abgebrochen
(mein „Vater“ starb bereits 1982)und dieses Mal endgültig. Sie ist heute
88 Jahre alt und sie hat die Familie immer noch im Griff. Es hat einige
Zeit gedauert, bis ich begriff, dass ich mich nicht dafür schuldig
fühlen muss, dass meine Geschwister jetzt wo ich den Kontakt zu meiner
„Mutter“ abgebrochen habe, noch mehr unter ihrem Machteinfluss leiden
müssen. Ich denke, auch sie haben die Möglichkeit, sich diesem zu
entziehen. Wir sind alle erwachsen (ich bin heute 52 Jahre alt) und
nicht mehr „ihre kleinen Kinder“, wie sie es gerne hätte, die nur ihr
hörig sind. Meine Therapie hilft mir, mich ernst genommen zu fühlen und
meine Trauer langsam nach außen kommen zu lassen. Jetzt werde ich ihr
Buch „das Drama des begabten Kindes“ zu Ende lesen. Ich hatte es
beiseite gelegt, weil mich ihr Buch „Die Revolte des Körpers“ am
stärksten in den Bann gezogen hat.

Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen. Ich bin der Meinung, wir leben auf
der ganzen Welt in gesellschaftlichen Verhältnissen, die auf Ausbeutung
und Unterdrückung beruhen und die bürgerliche Familienordnung ist die
Basis dafür, dass das so funktionieren kann. Dieses Konzept gerät aber
immer mehr in eine Krise, denn es zerstört Familien, es zerstört die
gesamte Gesellschaft, es stellt die gesamten Lebensverhältnisse von uns
Menschen insgesamt zunehmend in Frage und es zerbricht die Menschen und
dient der Manifestierung der bestehenden weltweiten kapitalistischen
Machtverhältnisse. Ich habe den Eindruck, aus dem was sie geschrieben
haben, dass sie damit nicht übereinstimmen, was ich selbst aber für
inkonsequent halte. Es steht meines Erachtens im Widerspruch zu ihrer
klaren und einmütigen Parteinahme für die Kinder dieser Welt.

Ich habe selbst zwei erwachsene Kinder und inzwischen auch ein
Enkelkind, aber ich habe meine Kinder nicht ganz davor bewahren können,
von mir etwas mit zu bekommen, was mir in meiner Herkunftsfamilie an
Traumatisierung widerfahren ist. Ich habe aber begonnen mit Ihnen offen
darüber zu sprechen. Und sie haben mir gesagt, was ihnen selbst mit mir
als Mutter sehr weh getan hat, aber ich habe mich dem stellen können und
wir konnten wieder zu einander finden. Aber auch erst seit dem ich
begonnen habe, mir bewußt zu werden, was mir selbst widerfahren ist in
meiner Kindheit und Jugendzeit.

Ich möchte mit einer Liedzeile von Bettina Wegener enden :
„Grade klare Menschen wären ein schönes Ziel, Leute ohne Rückrat haben
wir schon so viel…“

herzliche Grüße und über eine Antwort würde ich mich freuen. Sie können
meinen Brief gerne ggf. veröffentlichen.HD

AM: Leider ist es so, dass wenn wir dazu erzogen wurden, uns ausnützen zu lassen, wir uns später vor ähnlichem Verhalten nicht gut wehren können. Wir erwarten dann Dankbarkeit für unsere Fügsamkeit, wie in der Kindheit. Erst wenn wir die Revolte gegen die Manipulation erlebt haben, werden wir fähig, Grenzen zu setzen und schneller zu merken, wenn uns jemand zum Sündenbock gebrauchen muss. Wir machen dann im Spiel der Ausbeutung nicht mehr mit.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet