Das Opfer
Thursday 17 December 2009
Liebe Frau Miller,
ich habe wieder einen längeren Text geschrieben. Er heißt, Das Opfer. Das Kind zweifelt jetzt nicht mehr, es kennt seine Zweifel und den Grund seines Misstrauens. Es kennt seine Angst. Es kennt den Grund seiner Angst. Es betrachtet das Eis, und was aus ihm geworden ist. Das Kind fühlt. Es zeigt dem Erwachsenen die Wut, die erste große, für die es Abbitte leisten musste. Es kann jetzt wieder mit sich sprechen. Es hat Verständnis für sich selbst und kann sich wieder sehen, ganz, ungeteilt. Das Kind lebt nicht mehr abgetrennt von sich. Ich dachte immer, dass es einen Riss durch die Welt gibt. Dabei war der Riss in mir. Das Eis verdeckte den Riss. Die Wunde war vereist, niemals verheilt, nur eisig kalt. Das Eis tötet den Schmerz und verhindert das Gefühl. Wenn Kafka schreibt, dass ein Buch wie eine Axt für das gefrorene Meer in uns sein soll, dann verstehe ich das jetzt besser. Das Buch schlägt in das Eis und öffnet eine Wunde, die da schon war, nur örtlich abgetötet und betäubt, doch aufgesprungen und neu besehen, erst von dir selbst, durch Fühlen auch behandelt werden kann.
Sie sprechen im Kafka Kapitel von Du sollst nicht merken, den Ozean als Schatz an, der für einen Künstler/Schriftsteller unermesslich sei.
Wenn das Eis bricht, verändern wir uns nicht, wir werden nur mehr, weil wir uns selbst jetzt kennen lernen können. Denn das wurde uns als Kinder verwehrt, uns selbst in uns mit uns und allen anderen, gut zu verstehen und zu verständigen um so zu wachsen.
Ich habe den Text in den Anhang gegeben.
Ich hoffe, es geht Ihnen gut.
Herzliche Grüße
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AM: Ich habe Ihren Text im Anhang gelesen und mir viele Stellen angestrichen. Sehr oft war ich tief erschüttert und fühlte mich auch in meinem Bemühen, die große Bedeutung der Wut zu erklären, verstanden und unterstützt. Können Sie mir den Link zu Ihrem Anhang noch einmal schicken, in dem Sie ihn IM TEXT erwähnen?
Ich habe neulich einen Brief erhalten, den ich nur direkt beantwortet habe, weil er sich nicht zur Publikation eignet, er ist zu verwirrend, aber er zeigt, wie schwer sich manche Therapeuten mit meinem Vorschlag tun, die Wut in der Therapie zuzulassen. Sie meinen, die heilende Wirkung besitzt der Schmerz und nicht die Wut. Meine Antwort möchte ich hier hineinkopieren.
„Der Schmerz ist nirgends verboten, nicht in der Erziehung und nicht in den Religionen. Daher braucht er nicht verdrängt zu werden. Nur die Wut auf die eigenen Eltern ist weltweit verboten, wird daher gefürchtet und oft lebenslang unterdrückt oder auf Sündenböcke verschoben. Wer seine eigene unterdrückte Wut maßlos fürchtet, wie zum Beispiel Freud, verbündet sich gerne mit der Lüge und erfindet Theorien, die die empörende Wahrheit leugnen. Der berechtigte Zorn öffnet nachweisbar die Türen zum eigenen Mut und damit zur emotionalen Ehrlichkeit. Der Schmerz allein tut dies nicht, wenn er den Zorn leugnet.“
Ihr Text im Anhang zeigt sehr schön, wie der Zugang zum Selbst des Kindes durch das Verbot der Wut, des Protestes, des Schreiens abgeschnitten wird und später die tiefsten Ängste mobilisiert..