Weshalb Todesängste?

Weshalb Todesängste?
Monday 01 February 2010

Liebe Frau Miller,

ich habe mir so einiges auf Ihrer Seite durchgelesen und es entstand der Wunsch, auch etwas zu schreiben.

Ich bin 22 Jahre lang von meiner Mutter traumatisiert worden, wie mir Therapeuten sagen. Sie schlug, sie demütigte, sie erniedrigte, sie beschimpfte, sie beleidigte, sie vernachlässigte mich emotional, sie bespuckte, sie bezwang, sie entmenschte und sie ignorierte mich. Es gibt keine gute Mutter. Der Vater tat nichts, es war ihm egal, was sie mit den Kindern tat, die doch auch seine waren.

Mein Leben lang befand ich mich deshalb immer wieder in Therapie, mittlerweile 5 stationäre Therapien und 3 ambulante. Zurzeit warte ich auf den Beginn einer ambulanten Therapie.

Noch immer konnte ich das für mich Wichtigste nicht bearbeiten: Meine Vergangenheit betrauern. Ich kann nicht weinen und nicht schreien, das ist so quälend. Doch meistens fühle ich nichts, ich kann den Schmerz nur wage erahnen, er muss da sein, das weiß mein Kopf. Ich kann weder vertrauen noch anderen Menschen meine Gefühle zeigen.

Es gibt einige Ereignisse, die mir einfallen, die hierfür Ursache sein könnten oder ich bin mir sicher, dass sie damit zusammenhängen. Hier wurden die Samen meiner Angst gesät. Ich möchte nur das massivste beschreiben:

Meine Mutter ist über mir, ich muss noch in einem Alter gewesen sein, wo sie mich windelte. Ich liege unter ihr, sie schlägt mit ihrer Faust auf mich ein, ich weiß nicht warum. Sie zielt auf mein Gesicht, ich versuche, mich mit den Händen und Armen zu schützen, von wehren keine Rede. Doch sie hält mich fest mit der anderen Hand, sie ist stärker als ich. Ich versuche, mich ihrem Griff zu entwinden, doch es gelingt mir nur manchmal, es ist ein Gerangel. Ich schreie und weine, weil sie mich schlägt. Mein Schreien und Weinen ist ihr zu laut und zu viel und so fordert sie von mir, dass ich mit Schreien und Weinen aufhören soll. Sie faucht: „Ist die gefälligst still!? Ist die noch nicht ruhig? Ich schlag die windelweich, ich haue die so lange, bis die ruhig ist! Hat die das kapiert, hat die das endlich kapiert? Wenn die ruhig ist, dann schlage ich se nicht mehr! Na, ist die bald ruhig? Hört die noch nicht auf?“ Mit jedem Schlag stieß sie ihre Forderung hervor. Ich hatte verstanden, ich durfte nicht schreien und weinen. Aber ich schrie doch, weil sie mich schlug! Verstand sie das denn nicht? Es tat weh, wenn sie mich schlug, also weinte ich. Aber ich wollte nicht mehr, dass sie mich schlug, ich wollte, dass das aufhörte, ich wollte, dass sie mir nicht mehr weh tat. Also versuchte ich, mit Weinen aufzuhören. Ich versuchte das zu tun, was sie wollte, das war meine einzige Rettung aus dieser Situation. Ich riss mich zusammen, ich hielt alles zurück und alles fest, was in mir war, ich hielt die Luft an, ich wurde steif und starr und alles Leben wich aus mir, ich war gar nicht mehr da, ich schwebte irgendwo anders. Ich hatte es geschafft, ich schrie nicht mehr, das Ziel ist erreicht und tatsächlich, sie ließ ab von mir, endlich…

Eine derartige Situation gab es mehrmals in meinem Leben, ich weiß nicht wie oft.

(Ich habe das noch nie erzählt, hiervon wissen nur einige in geschriebener Form.)

Ich fühle nichts, absolut gar nichts, ich bin tot. Tot wie damals, weil ich nicht weinen und schreien durfte.

Ich frage mich, was passiert in der Seele eine Kindes, das nicht schreien und weinen, seinen Schmerz nicht äußern darf? Was bedeutet das für das Gefühlsleben? Irgendwie kann ich das nicht verstehen, nicht erfassen und nicht denken. Was ist damals passiert mit mir? Was ist kaputt gegangen, was funktioniert nicht mehr? Warum funktioniert es nicht mehr?

Ich kann mich erinnern, dass es lange Jahre so war, dass mir Menschen angst machten, wenn sie weinten. Ich geriet in Panik. Heute macht mir das keine Angst mehr, sondern ich bin eher verunsichert und weiß nicht, wie ich reagieren soll. Vielleicht ist es mir auch peinlich.

Nur ich selbst, ich kann nicht weinen, ich kann mich nicht fallen lassen. Es ist die Angst, ins Bodenlose zu fallen, ins endlose Nichts, da ist niemand, nur Leere, kein Halt, kein Boden, da ist Niemandsland und ich falle und falle endlos, in die endlose Weite, weil ich es nicht kenne, das da jemand sein könnte.

Ich frage mich wann, wann werde ich das können nach so vielen Jahren? Ich habe Angst, dass es mich überrollt, dass es mich vernichtet, mich zermalmt, dass ich zerfalle, in tausend Stücke zerspringe und nichts mehr von mir übrig bleibt. Ich zerschelle am Boden, der hart und kalt ist, weil da niemand ist, der mich auffängt.

Vielleicht ist es die Angst, erschlagen zu werden, wenn ich schreie und weine, denn sie hätte mich womöglich erschlagen, wenn ich nicht aufgehört hätte.

Die Sehnsucht, sie bleibt, es muss doch in meinem Leben irgendwann einen Menschen geben, der mich auffängt, wenn ich falle. Ich muss es doch irgendwann schaffen, mich fallen lassen zu können. Nur wann?

Vielen Dank für Ihre Seite und liebe Grüße U.S.

AM: Lesen Sie mein Buch “Dein gerettetes Leben”. Vielleicht wird es Ihnen helfen zu weinen und an Ihre Wut heranzukommen. Sie werden diese Gefühle ertragen, wenn Sie sich verstanden fühlen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet