Im Gefängnis der Kindheit
Thursday 20 July 2006
Werte Frau Miller,
Vor ca. 4 Monaten las ich Auszüge aus „Quälende Schatten aus der Vergangenheit“ von Sieglinde W. Alexander. Ich fühlte mich betroffen und dachte so bei mir: „Ja, einiges kommt Dir bekannt vor, aber da bist Du ja noch glimpflich weggekommen“. Zwar war ich der Meinung, dass ich zu EMaK (Erwachsene misshandelt als Kind) gehöre, aber nicht so richtig, denn ich war ja meiner Meinung nach nur geschlagen worden.
Heute sehe ich das allerdings etwas anders.
Ich kann auch gar nicht beschreiben, was und wie ich mich fühle. Manchmal Wut, manchmal Haß und eine unendlich tiefe Trauer, eine Trauer, die mich fast erdrückt. Als Depression würde ich dieses Gefühl nicht bezeichnen, denn ich will ja wieder lebendig werden und leben, endlich leben.
Ich, (52) bin die Älteste von 5 Geschwistern (beide Brüder (49 bzw. 48) sind Alkoholiker, einer trocken, der andere zwangstrockengelegt, beide Schwestern (50 bzw. 39) sind berentet, die Jüngste hat MS und die andere – keine Ahnung). Selbst bin ich, wenn nicht abhängig, dann stark alkoholgefährdet.
Mein ganzes Leben lang habe ich mir die Frage gestellt, warum ich als Kind von meinem Vater mit solcher Brutalität geschlagen wurde, ob das denn nie jemand außerhalb der Familie gesehen hätte und so weiter“
Vor 12 Jahren bin ich bei Al-Anon aufgeschlagen, da auch mein damaliger Freund Alkoholprobleme hatte. Habe dann 2 Therapien zur Kindheitsaufarbeitung gemacht, die haben aber nur an der Oberfläche gekratzt. Bin weiterhin zu Al-Anon gegangen, hatte aber in den letzten Jahren das Gefühl, auf der Stelle zu treten, weil mir irgendein Teil in dem Puzzle fehlte. Wenn 5 Kinder so geschädigt sind, musste es mehr gegeben haben als nur einen jähzornigen Vater.
Vor einem Jahr hat meine Schwester I…(50) mir und meiner kleinen Schwester erzählt, dass sie von unserem Großvater (väterlicherseits) regelmäßig sexuell missbraucht worden sei. Ich konnte mich plötzlich an Bilder (Dinge, die ich gesehen hatte) erinnern und ihr das bestätigen. Da dachte ich, o.k., Du bist dafür geschlagen worden, weil Du das gesehen hast und ja davon nichts nach draußen dringen durfte (was sollen die Leute denken?).
In einem Ihrer Bücher fragen Sie, warum Ingemar Bergmann die Misshandlungen, denen sein Bruder ausgesetzt war, wahrgenommen habe, sich selbst aber nicht erinnern konnte. Ich musste sofort an den Film „Fanny und Alexander“, den ich mehrmals gesehen habe, denken. Wie habe ich mit diesem Kindern gelitten! Genauso hatte ich mit meinen jüngeren Geschwistern gelitten, wenn sie misshandeltet wurden und ich hilflos zusehen musste.
Ich stellte mir die Frage, warum ich den Missbrauch an meinen Schwestern bestätigen konnte, aber mich selbst nicht erinnern konnte.
Und dann kamen die Bilder und ich weiß jetzt, dass auch ich sexuell missbraucht wurde: “ durch 2 Personen: meine Oma, die mich festhielt und mein Opa, der an mir rumfummelte. Daß sie Unrechtes taten, wusste meine Oma genau und bald auch ich, denn ich habe damit gedroht, alles zu erzählen. Da kam mein Vater auf den Plan. Er war seiner Mutter hörig und sie erteilte den Befehl, mich schlagen. Sie hielt mich fest und mein Vater schlug zu, begleitet von ihren Worten: „Diese Lügen werden wir Dir schon austreiben.“
Die Bilder vor meinem inneren Auge wurden immer klarer, manche ergaben im ersten Moment gar keinen Sinn, es waren wieder nur Puzzleteile, die nicht richtig passten. Manchmal waren es ganz klare Träume, die so deutlich waren, dass der Wahrheitsgehalt nicht zu leugnen war.
Ich versuchte, einen Therapeuten zu finden, der Tiefenpsychologie nach Alice Miller anbietet, habe den aber bis heute nicht gefunden. Also versuche ich alleine, mich durch diesen Sumpf durchzuwursteln. Ich hatte dann beschlossen, 2 Wochen meines Urlaubs (ich bin voll berufstätig und kann demzufolge tagsüber keine Kindheit aufarbeiten) im Juni diesen Jahres dafür zu nutzen, meine Kindheit zu „bearbeiten“, direkt am Ort des Geschehenens. (Ich habe vor 8 Jahren als alleinerziehende Mutter ein Haus auf das Nachbargrundstück meiner Eltern gebaut.) Ich kann nicht behaupten, dass diese 2 Wochen besonders lustig waren. Ich habe viel aufgeschrieben, geordnet nach Jahren, nach Themen, mehrere Blätter mit Fragen, einfach Lose-Blatt-Sammlung, habe viel geweint, viel mit meiner kleinen Schwester telefoniert und dabei wieder ein paar Puzzleteile an ihren Platz rücken können. Und jetzt habe ich mir einen MP3-Player mit UBS-Stick und Micro gekauft und spreche dann, wenn sich Emotionen nicht auf Papier bannen lassen oder mein Sohn die nicht hören will, einfach auf´s Band.
Zum Beispiel, wenn mir eine Geschichte wie die folgende einfällt:
Stiefel
Ich, (52) hatte ein Riesenproblem mit Stiefeln – Lederstiefel: „Gummistiefel“ an den Füßen meines Vaters und das schon seit meiner Kindheit. Mein Vater (83) betritt mein Haus, dass er als Untermieter mitbewohnt, grundsätzlich nur mit Stiefeln (wie auch früher schon das Haus seiner Eltern, denn da haben wir gewohnt). Wenn er die auszieht, standen und stehen die in der Küche, am besten vor dem Herd. Seine Mutter hat das immer geduldet, aber ich habe die als Jugendliche manchmal rausgeschmissen, manchmal bis auf den Hof, was mir natürlich nichts als Dresche eingebracht hat.
Als ich einer Freundin, die auch an ihrer Kindheit arbeitet, erzählte, dass ich immer noch Angst hätte, die Stiefel rauszuschmeißen, sagte sie zu mir: „Schau doch mal, was die Stiefel mit Dir machen“. Erst mal passierte gar nichts. Ich war schon öfter wegen ungeklärter Bauchschmerzen krankgeschrieben, so ungeklärt, dass ich beim Hausarzt ein schlechtes Gewissen hatte. Weil ich nicht sagen konnte, ob es Magen, Darm, Blinddarm oder Unterleib sei. Diese Bauchschmerzen bekomme ich immer dann, wenn mein Vater völlig ausrastet (mit 83) und brüllt wie ein Geisteskranker.
Dann hatte ich einen Traum: dieser Traum ist die Wahrheit gewesen und seitdem sind die Bauchschmerzen nicht wiedergekommen, auch wenn er brüllt!
Ende Mai 2006: Ich werde frühmorgens um 4 Uhr wach, völlig zusammengekrümmt mit Bauchschmerzen, bin sofort hellwach und erinnere mich an meinen Traum, erst Bruchstücke, dann immer mehr und am Ende des Tages ist das Bild klar vor mir:
1958 Sommer Heuernte. Ich bin knapp 5 Jahre alt, durfte nicht mit auf die Wiese und musste wieder einmal bei Oma bleiben, die anderen kommen mit der Fuhre heim, ich habe ganz viel zu erzählen, laufe freudestrahlend in die Scheune, mein Vater sieht mich nicht, ich bin im Weg, ich reiche ihm bis zur Hüfte, er tritt nach mir, in den Bauch, mit Stiefeln, ich fliege 2m durch die Scheune, er macht auf dem Absatz kehrt, rennt durch das vordere Scheunentor raus, ich habe Angst, dass er zurückkommt, krieche unter die Dreschmaschine und bleibe dort liegen.
Im Hintergrund sehe ich meine Mutter. Sie, vor Entsetzen erstarrt und die Augen weit aufgerissen, aber unfähig, sich zu rühren. Einige Zeit später hat meine Mutter mich und meine 2 Jahre jüngere Schwester für ein paar Wochen zu ihrer Tante gebracht.
Auflösung (Meine Version): meine Mutter war im 6.Monat schwanger mit meinem jüngsten Bruder und hatte das meinem Vater auf der Wiese eröffnet (man merkt ja sonst nichts). Dieses Kind war nicht erwünscht, wir waren ja schon 3 (zwei Mädchen und dann endlich der Thronfolger), da musste mein Vater doch erst mal zu seiner Mutter petzen rennen und wenn ich da zufällig in die Quere komme. Bei der nachfolgenden Suchaktion habe ich immer noch dort gelegen und mich nicht gerührt. Dieses Versteck war einige Zeit allen andern unbekannt. Jahre später ist mein heißgeliebter Hund „Tella“ dort gestorben. Ich habe mich jetzt mit 70 kg dort noch mal reingezwängt, wollte fühlen, wie es sich damals angefühlt hat. Ich habe hemmungslos geweint und mich selbst in den Arm genommen. Es gibt kaum Zweifel an meiner Version. Es gibt auch keinen Zweifel daran, dass es wissende und helfende Zeugen gegeben haben muß, sonst würde ich heute nicht mehr leben. Manchmal weiß ich nicht, wie ich weiter arbeiten soll, es dauert mir alles zu lange. Deshalb habe ich auch Angst, nur sinnlos Zeit zu vertrödeln auf der Suche nach einer geeigneten Therapeutin. Meine Frage an Sie: Habe ich denn eine Chance, alleine aus dem Sumpf rauszukommen? Ohne Therapeutin?
AM: Leider können wir nur Auszüge aus Ihrem Brief veröffentlichen, weil er viel, viel länger ist, als unsere üblichen Zuschriften. Und doch möchte ich zumindest einen Teil Ihres Schreibens bringen und Ihre Frage am Schluss beantworten, denn Sie scheinen aufrichtig und mit großem Einsatz darum bemüht zu sein, Ihre Kindheitsgeschichte aufzudecken. Sie möchten nicht nur die Fakten finden, sondern auch dem kleinen Mädchen, das Sie waren, beistehen, dessen Leiden fühlen und ernstnehmen. Natürlich lässt sich das nicht ohne starke Emotionen wie Wut und Hass erreichen, aber – da Sie deren Gründe schon kennen – könnten diese Emotionen Sie mit der Zeit verlassen. Vorausgesetzt, dass Sie die Chancen der Erwachsenen und deren Verantwortung dem Kind gegenüber wahrnehmen.
Solange Sie hingegen dem einst brutal gefolterten Kind die Präsenz ihres Vaters zumuten, indem Sie ihn als „Untermieter“ in Ihrem Haus wohnen lassen, bleiben Sie im Gefängnis Ihrer Kindheit. So können dann Ihre Wunden nicht ausheilen, denn Ihr Hass wird ständig von neuem aufgeschürt werden. (siehe „Die Revolte des Körpers“). Wenn wir als Erwachsene die alten Abhängigkeiten weiter akzeptieren und sie nicht auflösen, hat ja die große Anstrengung der Aufdeckung (die ja nur ein Teil der Therapie ist), wenig genützt. Ich wünsche Ihnen die Einsicht, die Sie brauchen, um sich endgültig zu befreien. Den Mut haben Sie ja.