Missbrauch oder Einbildung?

Missbrauch oder Einbildung?
Wednesday 26 July 2006

Liebe Frau Miller,

ich wurde in einem anderen Forum auf Ihre Homepage und ihre aufklärenden Bücher aufmerksam gemacht und ich muss zugeben, dass ich sehr hellhörig wurde, als ich erkannte, dass Sie Expertin für das Thema Missbrauch sind.

Sehr sorgfältig habe ich Ihre Homepage studiert und auch intensiv darüber nachgedacht. Dabei kam mir die erschütternde Frage in den Sinn: Bin ich als Kind missbraucht worden? Handelte es sich vielleicht nur um harmlose Rügen und mein mimosenhaftes Verhalten neigt zur Übertreibung?

Meine Lebensgeschichte:

Heute bin ich 22 Jahre alt und lebe mit einem Mann zusammen, der 35 Jahre alt ist, geschieden und Unterhalt für seine drei Kinder zahlen muss. Wir sind nun schon ein Jahr und vier Monate zusammen. Da wir ziemlich früh eine gemeinsame Wohnung bezogen, lernte ich ihn recht schnell kennen. Und diese Person machte mir Angst. Mein Freund wurde zunehmend besitzergreifend, klammerte, ließ mich kaum meine eigenen Entscheidungen treffen. Sobald ich das tat, führte das zum Streit. Er war und ist der Meinung, dass eine Partnerschaft an erster Stelle steht, dass bedeutet für ihn, er und ich dürfen ausserhalb unserer Beziehung keine Freunde haben. Es ist nicht notwendig, sich anderen mittzuteilen, oder einfach nur mit anderen Spass zu haben. Für ihn ist die Beziehung perfekt, wenn ich mich so selten wie möglich mit Freunden treffe. Erst recht dürfen es keine männlichen Freunde sein. Da ich anderer Meinung bin, führt dies oft zu einer Auseinandersetzung. Er wirft mir vor, ihn im Stich zu lassen. Er glaubt, dass alle anderen mir wichtiger seien als er, obwohl ich den größten Teil, oder besser gesagt, meine gesamte Freizeit mit ihm verbringe. Doch das reicht ihm nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er in mir die Mutterliebe sucht, die er nie von seiner Mutter bekam, da sie ihn und seinen Vater verließ, als er noch klein war. Sobald ich nicht seine Entscheidungen akzeptiere, fühlt er sich hintergangen, wird wütend und aggressiv. Er hat kein Vertrauen zu mir, denkt ständig, dass ich ihn betrüge, wenn ich nicht bei ihm bin. Das äussert sich dann folgendermaßen:

An einem Freitag abend habe ich mich spontan dazu entschieden, zu einer Freundin zu fahren. Wir wollten Pizza essen und einen Film ansehen. Mein Freund reagierte über: “Warum kannst du nicht früher bescheid sagen? Jetzt muss ich den Abend ohne dich verbringen. Ich fühle mich im Stich gelassen. Deine dumme Freundin bringt uns noch auseinander!”
Irgendwann eskalierte der Streit und er fuhr wütend mit seinem Auto davon. Ich ließ mich derweil von meiner Freundin abholen. Ich konnte ja nicht ahnen, was an diesem Abend alles passieren würde…

Während wir gemütlich auf der Couch saßen und Pizza aßen, rief er permanent an, teilte im betrunkenen Zustand mit, dass er sich jetzt umbringen würde und legte anschließend auf. Wenn ich versuchte ihn zu erreichen, ging er nicht an sein Handy. Anschließend rief er wieder an, sagte mir, dass ich ihn im Stich gelassen habe und das alle ihn im Stich lassen, und legte wieder auf. So ging das den ganzen Abend, bis ich verzweifelt zu weinen anfing, weil ich den Druck nicht mehr aushielt. Ich wusste auch nicht, wo er sich gerade aufhielt und konnte keine Hilfe von Dritten beanspruchen. Wo sollten sie zum suchen anfangen? Irgendwann fuhr meine Freundin mich nach Hause. Eigentlich hätte ich bei ihr übernachten sollen. Unterwegs rief er wieder an, schrie betrunken ins Handy, dass es ihm so heiss sei, es würde brennen, und ich solle schnell kommen. Entsetzliche Angst stieg in mir auf. Ich hoffte, ihn zu Hause vorzufinden. Und so war es dann auch. Sein Auto war schräg auf zwei Parkplätzen abgestellt. Es fehlte ein Scheibenwischer. Er lag auf dem Boden im Flur, fast nackt, seine Kleidung überall verstreut, seine Handgelenke waren angeritzt. Ich dachte, er sei eingeschlafen, doch ich täuschte mich. Sobald meine Freundin und ich ihn ins Bett gebracht hatten und sie fort war, stand er auf. Verhasst starrte er mich an. Er beschimpfte mich mit “Schlampe” und mit Aussagen wie: “Lass dich doch von Ausländern durchficken!”
Ich wurde wütend, zog meine Jacke an und wollte hinunter, um das Auto umzuparken. Es war unmöglich ein normales Gespräch mit ihm zu führen. Doch er versperrte mir den Weg. Als ich mich wehrte, schubste er mich gewaltsam gegen ein Regal und drohte mir mit dem Satz, dass er mich umbringen würde, wenn ich jetzt ginge. Ich hatte seit meiner Kindheit, als mein Vater mich schlug, (dazu komme ich später), nicht mehr so große Angst gehabt. Am nächsten Tag konnte er sich angeblich an nichts erinnern und war immer noch wütend auf mich, da ich ihn ja im Stich gelassen hatte. Seine Therapeutin hat keine Psychose diagnostiziert. Sie ist der Meinung, dass er sein Verhalten kontrollieren könne. Jetzt frage ich mich, ob er solche Dinge tut, weil er einfach nur berechnend ist, oder wirklich ernsthaft krank.

Vor ca. zwei Wochen fuhren mein Freund, meine beste Freundin und ich zur Abschlussfeier meiner Schwester, die in Augsburg stattfand. Mit dem Auto brauchten wir eine Stunde. Meine Freund wollte anschließend noch am selben Abend nach Hause fahren, deswegen hatten wir vereinbart, dass er nüchtern bleiben sollte. Doch innerhalb der ersten Stunde hatte er schon vier Gläser Absinth getrunken, ohne das ich sofort etwas davon mitbekam. Schließlich stand ich nicht den ganzen Abend neben ihm. Dann sah ich ihn zwischendurch mit einer Flasche Bier und fragte ihn, ob nicht lieber ich fahren sollte, ich hatte noch nicht getrunken und vielleicht will er mehr als nur ein Bier trinken. Er winkte ab und sagte: “Du kannst ruhig etwas trinken. Verlass dich auf mich, ich bleibe nüchtern.”
Doch nach einer weiteren Stunde war mein Freund sturzbetrunken und meinte, dass er sich hinlegen müsse. Für meine Freundin und mich war klar, dass wir diese Nacht hier bleiben würden. Ich hatte zwar nicht viel getrunken, fühlte mich allerdings zu müde zum fahren. Es war für alle Beteiligten sicherer, hier zu bleiben. Nach einer Stunde wurde mein Freund wieder wach, gereizt und wütend setzte er sich an seinen Tisch und beobachtete mich und die anderen Partygäste angewiedert. Als ich eine männliche Person zum Abschied freundschaftlich umarmte wurde er erst richtig wütend. Er kam auf mich zu und meinte, dass er jetzt fahren wolle, weil er keinen Bock mehr auf diese “Scheisse” hätte. Völlig perplex versuchte ich ihm zu erklären, dass er nicht mehr fahren könne, da er zu viel getrunken hatte. Auch andere Leute wurden hellhörig und versuchten ihn ebenfalls umzustimmen. Doch er blieb hartnäckig und wurde immer aggressiver, drängte mich: “Ich fahr jetzt! Entweder kommst du jetzt mit oder ich bin stinksauer!” Er sagte auch: “Ich bin nüchtern. Ich kann fahren. Ich weiss, dass nichts passiert!”
Ich sagte meiner Freundin, dass sie hier bleiben solle, ich wolle sie nicht in Gefahr bringen und ich hätte auch bleiben müssen, doch ich fuhr mit. Ich hatte eine so große Angst vor seiner Reaktion, dass ich mich gezwungen fühlte, ihm zu gehorchen, obwohl ich das nicht wollte. Meine Freundin begleitete uns zum Auto. Unterwegs kam uns einer der Partygäste entgegen und begrüßte uns freundlich. Mein Freund drehte sich wütend um und sagte: “Was ist das für ein Arsch!?”
Ich fragte ihn in sehr ruhigem Ton, warum er so aufgebracht sei. Es gab doch gar keinen Grund. Zornig fauchte er mich an: “Leck mich am Arsch!”
Meine Freundin und ich starrten uns erschrocken an. Wir konnten sein Verhalten einfach nicht nachvollziehen. Im Auto sagte er zu mir, dass ich eine “blöde Tussi” sei und nicht viel besser wäre, als all die anderen “scheiss Weiber”. Während der Fahrt blieb er sogar einmal stehen, damit ich austeigen solle, da ich mich ja zur Wehr setzte, und das durfte ich ja nicht.

Ständig erzählt er mir, dass seine Ex-Freundinnen alleine in den Urlaub fahren durften, doch bei mir könne er das nicht zulassen. Er hätte zu große Angst mich zu verlieren. Ich darf nicht einmal bei meiner Schwester in Augsburg übernachten. Desweiteren erzählt er immer ganz stolz, dass er während seiner Ehe fast den ganzen Haushalt schmeissen musste, während er in unserem Haushalt dagegen fast gar nichts macht. Das ist alles so widersprüchlich…

Nun frage ich mich, ob dieses Männerbild, dass sich über die Jahre in meinem Kopf manifestiert hat, mit meinem Vater, und deswegen mit meiner Kindheit, zusammenhängen könnte. Alle meine Ex-Freunde waren drogensüchtig, aggressiv, im Gefängnis oder psychotisch. Alle haben sie mich schlecht behandelt und danach mir die Schuld in die Schuhe geschoben und mich verlassen.

Als ich klein war lag ich schlafend auf meinem Bett, als mein Vater mit seinem Gürtel auf mich einschlug und mich damit weckte. Ich bin seitdem sehr schreckhaft im Schlaf. Ich weiss bis heute nicht, warum er mich geschlagen hat. Häufig warf er Schuhe nach mir oder meiner Schwester. Er beobachtete uns bei den Hausaufgaben und schlug mir jedes Mal auf den Hinterkopf, wenn ich einen Fehler machte. Meine älteste Schwester zwang mich dazu, so schnell wie möglich meine Schnürsenkel zuzubinden. Sie hat mich so lange auf dem Boden knien lassen, bis ich es konnte, auch wenn ich nicht mehr wollte. Im Schwimmbad hat sich mich untergehen lassen, als ich noch nicht schwimmen konnte, und mich geschimpft, ich solle mich nicht so dumm anstellen. Wenn mein Vater nicht mit dem Gürtel zuschlug, dann mit dem Kochlöffel oder mit der Faust. Meine Mutter mischte sich nicht ein. Meistens benutzte sie die gleiche Methode. Doch die körperliche Gewalt war nicht die einzige Macht, die mein Vater auf mich ausübte. Die verbale Gewalt war fast schlimmer. Wenn ich eine schlechte Note nach Hause brachte, hatte ich fürchterliche Angst nach Hause zu gehen, weil ich wusste, was mir blühte. Er kam alle fünf Minuten in mein Zimmer herein, (ohne anzuklopfen), und wiederholte immer wieder den gleichen Satz: “Du bist das dümmste Kind der Welt. Ich schäme mich dafür, so ein dummes Kind zu haben. Du wirst als Putzfrau enden, weil du sowieso nichts kannst.!”

Desweiteren gab es bei uns keine Privatsphäre. Bis zu meinem 21 Lebensjahr musste ich mir mit meiner Schwester ein Zimmer teilen. Meine Eltern kamen ständig herein, egal, ob ich mich gerade umzog, oder schlief. Meine Bedürfnisse wurden nie akzeptiert. Wenn ich mich beschwerte oder zur wehr setzte, sagten sie nur, ich solle mich nicht so anstellen. Ich sei viel zu empfindlich. Meine Familie war auch immer der Meinung, dass ich zu dick sei. Meine Mutter kochte extra fettarm, weil sie Angst hatte, dass ich zunehmen könnte. Meine älteren Schwestern äußerten Kommentare wie: “Du hast ja einen dickeren Arsch als ich!”, oder: “Die Cornflakes musst du doch nicht unbedingt essen, die haben viel zu viele Kalorien! Und was soll die Soße zu den Kartoffeln?! Da brauchst du dich nicht wundern, wenn du fett wirst!”
Wenn ich einen Eiskaffee trank, der mit Vollmilch zubereitet wurde, riet mir meine älteste Schwester, danach nichts mehr zu essen, damit ich nicht dick werden würde.

Mit 15 erkrankte ich an Bulimie. Diese Krankheit begleitete mich fünf Jahre. Ich war zweimal in einer Psychosomatischen Klinik und wurde danach noch zwei Jahre ambulant behandelt. Desweiteren erkrankte meine Mutter 1995 zweimal an Brustkrebs und ich fühlte mich schuldig. Mein Vater hat oft zu mir gesagt, dass ich an ihrer Krankheit schuld sei. Was die ganze Sache noch erschwerte, war die Tatsache, dass ich immer einen “schlechten” Partner hatte und über zwei Jahre an meinem Arbeitsplatz gemobbt wurde.

Nun frage ich mich ernsthaft, ob man in meinem Fall wirklich von Misshandlung sprechen kann, oder man es als harmlose Kleinigkeit “abtun” kann.

Ihre Meinung wäre mir äusserst wichtig und deswegen möchte ich Sie inständig darum bitten, auf meinen Brief zu antworten. Ich bin mir sicher, dass Ihre Anwort sehr hilfreich sein wird.

Vielen Dank.

A. G.

AM: Sie schreiben:
“Als ich klein war lag ich schlafend auf meinem Bett, als mein Vater mit seinem Gürtel auf mich einschlug und mich damit weckte. Ich bin seitdem sehr schreckhaft im Schlaf. Ich weiss bis heute nicht, warum er mich geschlagen hat. Häufig warf er Schuhe nach mir oder meiner Schwester. Er beobachtete uns bei den Hausaufgaben und schlug mir jedes Mal auf den Hinterkopf, wenn ich einen Fehler machte.”
Da machen Sie doch jedem klar, dass Sie ein schwer misshandeltes Kind waren. Sie können sich von den Folgen nur befreien, wenn Sie darüber KEINE ZWEIFEL MEHR HABEN. Doch davon scheinen Sie noch weit entfernt zu sein, daher lassen Sie sich durch Ihre “Freunde” weiter in der gleichen Art misshandeln, als ob Sie noch ein wehrloses Kind wären. Das sind Sie aber keineswegs, Sie sind eine erwachsene, intelligente Frau, aber blockiert in Ihrer Angst und Verleugnung. Das kommt im folgenden zögernden Satz zum Ausdruck:
“Nun FRAGE ich mich, ob dieses Männerbild, dass sich über die Jahre in meinem Kopf manifestiert hat, mit meinem Vater, und deswegen mit meiner Kindheit, zusammenhängen KÖNNTE (!!!). Alle meine Ex-Freunde waren drogensüchtig, aggressiv, im Gefängnis oder psychotisch. Alle haben sie mich schlecht behandelt und danach mir die Schuld in die Schuhe geschoben und mich verlassen.”
Die beiden Zitate zeigen Ihnen, dass Sie sehr wohl Ihre Situation erkennen, aber noch Angst haben, die Wahrheit auszusprechen, weil Sie unbewusst neue Schläge Ihres brutalen, kaputten Vaters und Ihrer Freunde, die ihm gleichen, erwarten. Aber Sie brauchen sich solchen Gefahren nicht mehr auszusetzen. Es liegt NUR AN IHNEN, einen Mann sofort zu verlassen, sobald er Ihnen Züge offenbart, die denen Ihres Vaters gleichen. Doch dazu gehört, dass Sie Ihr Wissen über beide Eltern VOLL UND GANZ ERNSTNEHMEN und ihm nicht länger ausweichen. Es drohen Ihnen heute keine solchen Gefahren, außer wenn Sie sich solche selber einbrocken, um das gute Bild Ihrer Eltern zu erhalten.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet