Die Wut

Die Wut
Monday 15 September 2008

Sehr geehrte Frau Dr. Miller,

ich brauche Ihre Hilfe und hoffe, daß Sie Zeit finden, mir zu antworten.

Ich habe einen dreijährigen Sohn (geb. Juni 2005), den ich über alles liebe. Ich bin alleinerziehend von Anfang an und völlig auf mich allein gestellt. Die letzten Jahre waren sehr, sehr schwierig für mich. Ich hatte in den ersten zwei Jahren keine Entlastung mit meinem Sohn und er klammert sehr, das hat er schon als Baby gemacht. Ich habe ihn immer bei mir gehabt, ihn getragen und ihn keine Sekunde allein gelassen. Wir schlafen auch immer noch in einem Bett und inzwischen lasse ich mich auch nicht mehr verrückt machen. Mein Sohn entscheidet, wann er allein in seinem Bett schlafen will. Wir stillen auch immer noch. Ich bemühe mich, CC-gemäß (Continuum Concept) zu leben und möchte meinen Sohn nicht erziehen. Wertvolle Hilfe dafür bekomme ich unter anderem von der unerzogen-Liste, vielleicht haben Sie schon davon gehört. Über diese Liste bin ich auch auf Ihre Bücher aufmerksam geworden. Und es war wie eine Offenbarung, eine sehr schmerzhafte. Ich habe eine schreckliche Kindheit gehabt, mit viel Gewalt und extremer Vernachlässigung. Ich leide noch heute darunter. Ich weiß, daß ich nicht wie meine Eltern bin, aber es gibt Muster, die sich jetzt mit meinem Sohn wiederholen. Das war mir schon bewußt, aber ich wußte nicht, wieso. Jetzt weiß ich es.

Ich habe meinen Sohn geschlagen und ihn ein paar Mal sehr schlecht behandelt. Es fing an, als er ungefähr eineinhalb Jahre alt war. Ich war einfach überfordert durch den langen Schlafmangel, das Alleinsein, ich war total fertig und kaputt, ich hatte und habe ja nie mal Zeit für mich, zum Luftholen. Mein Sohn hatte gerade wieder so eine Schreiphase, wo er sich durch nichts beruhigen ließ. Er trat und schlug mich und steigerte sich immer mehr rein. Ich zerrte ihn schließlich aus dem Bett, schrie ihn an und schlug völlig außer mir auf ihn ein, ein paar Mal mit der Hand auf seinen Windel-Popo, dann warf ich noch ein Kissen nach ihm. Er schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an, er hatte angst vor mir. Ich zerrte ihn vor die Tür (nicht nach draußen) und machte die Tür zu. Ich wollte, daß er endlich mit dem Schreien aufhört. Dann hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Ich war total verzweifelt, das war das erste Mal, daß ich dachte, du bist genau wie deine Eltern… Als ich mich beruhigt hatte, nahm ich meinen Sohn in den Arm und tröstete ihn, er hatte sich inzwischen auch wieder beruhigt. Ich sagte ihm, daß es mir leid tut und ich das nicht wollte, daß es falsch war ihn zu schlagen.

So ähnlich hat sich das seitdem noch einige Male abgespielt, immer in Situationen, wo ich hilflos war und vor Wut und Verzweiflung nicht weiter wußte. Das soll keine Entschuldigung sein, es gibt für mein Verhalten keine Entschuldigung. Ich möchte nur, daß Sie wissen, warum das passiert ist. Und daß ich das nicht gemacht habe, weil ich es ok finde, Kinder zu schlagen oder ähnliches. Es ist nicht in Ordnung. Ich lehne Gewalt in jeder Form ab und ich habe noch nie einen Menschen geschlagen – bis ich Mutter wurde.

Als ich Ihr Buch und ihre Website gelesen habe, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich war einerseits erleichtert, endlich wußte ich, warum das alles. Andererseits bin ich total verzweifelt, weil ich angst habe, was das alles schon mit meinem Sohn gemacht hat. Möglicherweise.

Ich habe mich immer bei meinem Sohn immer entschuldigt und ihm gesagt, daß es falsch ist und wie leid mir das tut. Es ist auch nicht so, daß das ständig passiert. Insgesamt vielleicht zehnmal bisher. Dazu kommt, daß ich manchmal recht ruppig mit ihm war, wenn ich die Geduld verlor. Mir war immer bewußt, daß ich mich falsch verhalte. In dem Moment konnte ich nicht anders, jedenfalls fühlte es sich so an. Mein Sohn weiß offenbar auch ganz genau, daß Schlagen nicht ok ist. Er schlägt mich zwar auch immer wieder mal, daß hat er schon immer gemacht. Aber er sagt auch immer zu mir, „Du darfst mich nicht hauen“, wenn ich ihn einfach nur am Arm nehmen will beispielsweise. Er ist sehr bestimmt dabei und schaut mich dann böse an. Überhaupt weiß er sehr genau was er will. Und er ist sehr sensibel.

Meine Frage nun an Sie:

Was kann ich tun, damit mein Sohn nicht später darunter leidet. Oder ist es schon zu spät? Ich bin keine Prügelmutter. Alles was ich will ist, daß mein Sohn glücklich ist. Und ich tue ja auch eine Menge dafür. Nur diese „Ausrutscher“ verursachen mir schlaflose Nächte. Nicht erst, seit ich Sie gelesen habe. Was kann ich tun, damit sich diese „Programmierungen“, falls es welche sind, bei meinem Sohn wieder ändern. Geht das überhaupt? Oder hat sich das jetzt bei ihm unauslöschlich eingebrannt?

Es ist passiert was ich nie wollte. Ich wollte es immer besser machen als meine Eltern. Und so wie sie bin ich auch nicht. Denn mein Kind ist mir nicht egal. Ich nehme ihn ernst und nehme Rücksicht auf seine Bedürfnisse und so weiter.

Was kann ich tun? Gibt es spezielle Anlaufstellen, die in Ihrem Sinne helfen können? Ich möchte nicht, daß sich das in seinem Kopf festsetzt. Falls es nicht schon zu spät ist. Das könnte ich mir nie verzeihen.

Nun noch eine Frage:

Ich habe schon viele Therapien gemacht, auch Traumatherapie mit EMDR beispielsweise. Immer wollte ich meine Kindheit bearbeiten, aber das ist mir bis heute nicht gelungen. Die Therapeuten waren alle der Meinung, das sei nicht sinnvoll. Aber richtig glauben konnte ich das nie. Jetzt weiß ich warum. Ich muß das einfach tun, sonst werde ich nie glücklich. Das spüre ich ganz deutlich. Ich muß das loswerden, sonst passiert das vielleicht wieder mit meinem Sohn. Ich will das nicht und ich schlage ihn auch nicht mehr. Das Bewußtsein um die Hintergründe hilft mir, mich anders zu verhalten. Aber die Wut, die das Schlagen verursacht hat, ist immer noch da. Mich erschreckt es selbst, wie wütend ich oft auf meinen Sohn bin.

Ich weiß daß das mein Problem ist, er ist nicht schuld. I c h muß was tun und an mir arbeiten.

Können Sie mir vielleicht einen Therapeuten in meiner Nähe empfehlen, der in Ihrem Sinne arbeitet? Oder können Sie mir sonst einen Tip geben, was ich tun kann um meine Vergangenheit zu bewältigen?

Für Ihre Hilfe wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich bin wirklich sehr verzweifelt und weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Therapeuten sind da nicht hilfreich, siehe oben.

Vielen Dank schon mal im voraus.
SB

AM: Sie erleben Qualen, wie viele Mütter sie auch erleben, aber selten die Möglichkeit haben, so ehrlich darüber zu berichten. Es ist ganz schrecklich, das kleine Kind schlagen zu müssen und nicht wissen zu wollen, dass es nicht das Kind ist, dass Ihre Wut verursacht, sondern NUR Ihre Eltern. Sie erwähnen diese nur in einem Satz, aber vom Kind schreiben Sie viel. Dabei sind alle die Gefühle, die Sie zum Schlagen verführen, sehr begreifliche Reaktionen auf die Grausamkeit Ihrer Eltern. Doch das zu SEHEN, macht Ihnen angst, Sie befürchten, für Ihre Wut wieder geschlagen oder gar umgebracht zu werden. So richten Sie sie auf das unschuldige Kind. Versuchen Sie, Ihren Eltern zu schreiben, was Sie Ihnen angetan haben, ohne die Briefe wegzuschicken. Ihre Wut auf das Kind wird sicher zurückgehen, wenn Sie sie gegen die Menschen richten, die Ihren Zorn verursacht und verdient haben. ES IST NIEMALS DAS KIND !!!

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet