Was tun?

Was tun?
Wednesday 26 July 2006

Sehr geehrte Frau Miller,
seit mehreren Jahren lese ich Lebenshilfebücher oder psychologische Bücher, die auch mit den bekannten Begriffen wie Lebenssinn, -Erfüllung, -Erkenntnis u. dgl. zu tun haben. Durch Zufall stieß ich auf ein Buch, in dem es um umgeschulte Linkshänder geht (Das Findbuch von Ulla Laufs), auch eine Art Missbrauch. Ich habe erst zwei Ihrer Bücher gelesen (Die Revolte des Körpers, Du sollst nicht merken), und ich muss sagen, so viel Wahrheit auf einmal ist mir noch nie begegnet. Die umgeschulten Linkshänder vermisse ich leider, obwohl dies nicht mein hauptsächliches Problem ist. Die primären Folgen, so bezeichnet man das glaube ich, waren Stottern, Bettnässen und Fingernägelkauen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, auch an den Löffel, den man mir zum Suppenessen verabreichte. Einen Test bei Dr. Sattler in München habe ich nicht gemacht, da eine Umschulung im Erwachsenenalter, ich bin fast 50, in den seltensten Fällen gelingt. Die sekundären Folgen sind Minderwertigkeitsgefühle, mangelndes Selbstwertgefühl, Schulversagen in der 9. Klasse/ Gymnasium und mitunter noch Stottern, bei Wörtern, die mit Vokalen beginnen, wenn ich unausgechlafen bin. Das hört sich recht harmlos an. Aber ich habe auch Süchte überwinden müssen. 1999 das Rauchen, vorher den Alkohol, wobei ich nicht regelmäßig getrunken habe. Nach zweimaligem Versuch, scheint mir jetzt auch die Überwindung einer Perversion gelungen zu sein. Da hatte ich auch ein relativ neues Buch über Sexsucht. Dass ich an so was litt, war mir überhaupt nicht bewusst. Ich meinte stets, ich bewegte mich im Rahmen der Freizügigkeit. Irgendetwas muss da noch vorgefallen sein in meiner Kindheit. Meine Meditationen und das Lesen haben mir viele Erkenntnisse gebracht. Zur Zeit arbeite ich mit dem Buch “Das Kind in uns” von John Bradshaw. Ich bin momentan bei den Meditationen über das Vorschulkind. Das ist sehr zeitaufwendig. Vielleicht sollte ich lieber meine Träume notieren. Oder sollte ich doch zu einem Therapeuten gehen? Können Sie mir welche in meinem Plz-Raum empfehlen?
Über die Perversion möchte ich nichts schreiben. Ich kann jedoch eine Internetseite angeben, die alles erklärt.
Kann Bradshaws großer Zauberer, so bezeichnet er seinen eigenen Erwachsenen, der sich um sein Kind in den versch. Altersstufen kümmert, bei mir ist der Erwachsene ein genialer Wissenschaftler, die einfühlsame Begleitperson, die Sie beschreiben, ersetzen?
Ergänzend muss ich noch anfügen, dass mein Vater ein Perfektionist ist, ein penetranter Ausmerzer, der in meiner Kindheit und Jugend auswärts arbeitete. Für meine Mutter, die nachts nicht schlafen kann, war ich vielleicht eine Art Ehemannersatz. Als Vorschulkind wurde ich oft zur Oma in einen anderen Ort abgeschoben. Ich musste also über Wochen und Monate ohne Eltern und andere Kinder auskommen.

Vielen Dank für Ihre Antwort, J.B.

AM: Ich habe heute eine Antwort zum Brief “Missbrauch oder Einbildung” geschrieben. So möchte ich Ihnen empfehlen, diesen Brief und meine Reaktion darauf zu lesen. Es geht um das Ernstnehmen dessen, was man weiss, aber verleugnet, und das sich nicht nur in absurden Partnerschaften, sondern auch in Süchten und Perversionen ständig manifestiert. Dies verhaltenstherapeutisch zu behandeln, ohne die Misshandlungen in der Kindheit zu erkennen und emotional wahrzunehmen, ist purer Zeitverlust, weil die wahre Geschichte sich nicht umbringen lässt, sie zeigt sich immer wieder. Von Übungen und Meditationen halte ich nicht viel, diese lenken von den wahren Gefühlen ab, die die Wahrheit mitteilen wollen und können. Auch die Träume können das.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet