der Horror von damals

der Horror von damals
Saturday 20 October 2007

Sehr geehrte Frau Miller und das gesamte Team,

ich bin jetzt seit etwas mehr als zwei Jahren aus meinem Elternhaus ausgezogen, habe seit mehr als einem Jahr keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern und dem Rest der Familie.
Ich hatte damals (es kommt mir vor, als wäre es ganze Jahrzehnte her) bei meinem Auszug das Gefühl, dass sie alle zusammenbrechen würden, wenn ich weg wäre. Dass sie mich bräuchten und buchstäblich ohne mich nicht leben könnten.
Ihre ganzen unermesslichen Machtgelüste, ihre ganze brutale Aggressivität, ihre ganze widerwärtige voyeuristisch-demütigende Gier konzentrierte sich auf mich – meine Großeltern, meine Eltern, selbst mein zwei Jahre jüngerer Bruder. Alle, ausnahmslos, benutzten mich, gebrauchten mich, wie einen Sklaven, wie einen Wunscherfüllungs-Roboter.
Ich habe mich gefühlt wie die Sonne, um die sie alle kreisen, die ihnen allen das Leben erhält – oder vielmehr wie die Sonne, die um alle ihre Planeten zu kreisen hatte und die, wenn sie es nicht tat, lebensgefährlich bedroht worden ist.
Ich stand ein paar Mal kurz davor zu sterben. Und je länger ich mich mit mir selbst befasse, mich vollkommen zurückziehe und die einzige Meinung, die zählt und die einzigen Gefühle, die zählen und die einzige Stimme, die zählt, meine sein lasse, umso mehr Grauensequenzen fallen mir ein, die absolut und ohne jede Übertreibung lebensbedrohlich waren.

Seit ungefähr einem Jahr habe ich mit keinem Menschen mehr wirklich gesprochen, von solch belanglosem Wortwechsel an der Supermarkt-Kasse und dem Grüßen von Nachbarn mal abgesehen.
Als ich Kind war, hatte ich immer das Gefühl, am liebsten nichts mit den mich umgebenden Menschen zu tun haben zu wollen. Ich war zufriedener, wenn ich mit mir allein war und mein Gegenüber nicht versuchte, mich zu verdrehen.
Also habe ich mir dieses Recht jetzt einfach genommen, um zu sehen, was passiert, wenn ich diesem dringenden Bedürfnis nach dem Alleinsein nachgebe – da ich studiere und ohnehin vorhatte, das Studienfach zu wechseln, war es kein Problem, einfach hier in meiner Wohnung zu bleiben, die Bewerbungsfrist war ohnehin schon vorbei und ich musste sowieso ein weiteres Semester warten.

Nichts in der Welt hat mir jemals so gut getan wie diese Zeit ganz mit mir allein.
Keiner, der mir Vorschriften macht, mich mit idiotischen Ratschlägen zu Boden schlägt, oder einfach meine Zeit raubt, indem er/sie über vollkommen dämliche Sachverhalte sprechen will, die der Worte nicht wert sind. Sprechen, um nicht fühlen zu müssen, sprechen, um nicht denken zu müssen, sprechen, um nicht einsehen zu müssen, dass man gar nichts Wesentliches mit sich selbst anfangen kann, ich hatte es so satt, dieses Smalltalk-Gelaber und diese betäubenden Freizeitgestaltungen, an denen ich noch niemals Gefallen gefunden habe und die ich schon immer mied, so weit ich es mir erlauben konnte.
Da war nur noch ich. Die Zeit war hart und heftig und viele der Tage und Nächte war ich zu schwach dazu, um auch nur aus dem Bett aufzustehen, geschweige denn mich alltagstauglich anzuziehen und nach draußen zu gehen. Ich dachte, ich würde sterben vor lauter Kummer, vor lauter Schmerz, vor lauter Angst, vor lauter Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.
Ich fühlte all das und noch viel mehr.
Und nach und nach erinnerte ich mich immer deutlicher an Sequenzen aus meiner Kindheit und sah mehr und mehr ein, wie grauenhaft es war, damals.
Dass es schrecklich war, habe ich immer gewusst. Dass ich mich schon als Kind umbringen wollte, wusste ich auch.
Aber das Ausmaß wurde immer größer, wie eine dunkle, zähflüssige Welle, die mir jeden Atem raubte und immer weiter und größer über mich schwappte und dabei immer mehr Gewalt offenbarte.
Ich kämpfte ums nackte Überleben.

Ich erlebte so viel wieder, immer noch:
Meine Mutter, die mich als sehr kleines Kind wie verrückt schüttelte. Mein Vater, der immer wieder schlug und warf und trat. Mein Großvater mütterlicherseits in seiner tödlichen Gier, der, wenn er mich für seine pseudo-sexuellen Gelüste benutzte wie ein ekelhaftes altes Taschentuch, irgendwann an einem Punkt war, an dem er seine Außenwelt nicht mehr realisierte und würgte und erstickte und meinen Körper zerriss, ohne dass es ihn auch nur interessierte. Da war nur blanker, kalter, verdrängter Hass, eine Vernichtungsgier, eine Tötungsgier, absolute Machtgeilheit, das Leben eines kleinen Kindes in der Hand zu haben, als wäre er ein Gott, der über alles bestimmt und dem niemand sich entziehen kann-
Er wollte mich umbringen in diesen Momenten, die andere wohl Orgasmus nennen würden, die für mich aber Kulminationspunkt einer abartigen Tötungsgeilheit waren.
Ich fürchtete jedes Mal zu sterben, weit mehr als zehn Jahre lang in akuter Gefahr, jede einzelne Sekunde.
Meine Mutter stand ihm in diesem Punkt in nichts nach.
Mein Vater schlug und schlug und auch da war sie, diese Machtgeilheit, dieses grenzenlose, unbewusste, kranke Verlangen danach, mir weh zu tun und zu erleben, wie ich weinte und schrie und mich nicht mehr rührte und wie er es in der Hand hatte, ob er mich am Leben ließ oder nicht, ob er mir Wunden zufügte oder nicht, ob ich noch sitzen oder etwas sehen konnte oder nicht.
Mein zwei Jahre jüngerer Bruder biss mich, bespuckte mich, er fügte mir mehrmals Verletzungen am Rücken zu, so dass ich immer wieder Rückenschmerzen hatte, Nerven verklemmt waren oder es einfach höllisch weh tat. Er machte sich über mich lustig, brach sämtliche Vereinbarungen, die wir getroffen hatten, nachdem er bekommen hatte, was er wollte.

Mein Großvater väterlicherseits schlachtete in meinem Beisein Tiere – Hühner, Schweine, Schafe, Küken -, er setzte Hunde aus, die noch wenige Zeit zuvor mit auf dem Hof gelebt hatten, er und meine Mutter und seine Frau schlachteten Babykatzen und Hundebabys ab und Kaninchen.
Ich habe all das gesehen. Gesehen, wie er meine einzigen Freunde, die Tiere, zu sich zerrte, wie er ihnen bei lebendigem Leib die Kehle durchschnitt, die Tiere quiekten jämmerlich ein letztes Mal, versuchten sich zu wehren, suchten mit den Augen nach Rettung, sahen mich mit einem Blick an, der sich in mich eingebrannt hat und den ich niemals in meinem ganzen Leben vergessen werde. Todespanik, nackte, verzweifelte Todespanik und absolute, Unrecht schreiende Hilflosigkeit.
Ich sah, wie sie zuckten, sah, wie Hühner noch flatterten, nachdem ihr Kopf abgetrennt von dem Holzstumpf fiel, wie die Axt und der Stumpf voller Blut waren, wie es dampfte, wenn es kalt draußen war.
Ich sah, wie mein Großvater seinen Zeigefinger in die graue Wanne, in der das frisch ausblutende Schwein lag, tauchte und das Blut ableckte und mich dabei mit einem verzerrten, grimassenhaften Grinsen ansah, als wäre es sein höchstes Glück, Lebewesen solch eine unbeschreibliche Qual anzutun und mich dabei zusehen zu lassen.
Seine Gier, seine Allmacht, seine Drohung.
Als wäre ich die nächste, wenn ich nicht das tue, was er wolle.
Er schlachtete fast immer vor mir, er labte sich daran, der Gott in der Welt voller Todespanik und Leid und Qual zu sein. Der Oberteufel der Hölle.
Er schwang den noch zuckenden Körper des Huhnes in seiner Hand umher, der Kopf lag auf dem Boden, der Hund fraß ihn und es knackte, die Zähne des Hundes wurden blutig-schleimig überzogen, und bewegte den ermordeten Körper in meine Richtung, immer wieder, bis ich vom noch warmen Blut des ermordeten Tieres besprenkelt war. Es klebte auf der Haut, auf der Kleidung und besonders in den Haaren, das Blut. Mit elf Jahren und später erneut mit 15 Jahren wusch ich mir fast täglich bis zu zehn Mal hintereinander die Haare (ohne, dass er mich zuvor mit Blut bespritzt hatte) und roch es trotzdem, das Blut, sah es an meinen Händen, fühlte die strähnig verklebten Haare und all das Blut ging einfach nicht weg, es wurde immer mehr mit dem Wasser. Zur gleichen Zeit hatte ich für viele Jahre lang sehr regelmäßig massives Nasenbluten, das bis zu drei Stunden andauerte. Einmal musste der Arzt gerufen werden, weil es nicht aufhörte.

Ich glaube, ich habe keine Wörter, um zu beschreiben, wie ich mich da
gefühlt habe, in dieser Hölle.
Schreien, Schluchzen, weinen, Schock, Hass, und so vieles, was nicht einmal einen Namen hat, wirbelte durcheinander, mir wurde schlecht, mir wurde schwindlig, ich hörte nur noch Rauschen und Klingen, ich sah nur noch Punkte und pulsierende Farben, ich schwebte im endlosen Raum, ohne Körper zu sein, es war nicht mal ein fallen, es war – zerfallen, in Einzelteile zerfallen, der Ganzheit beraubt.

Und so war es jahrelang.
Ich könnte das weiter ausführen und genauer schreiben, wie meine Mutter an der weiß gestrichenen Tür zu meinem Kinderzimmer stand und – nachdem sie lange genug taten- und emotionslos zugesehen hatte, wie einem Kinofilm, der ihre voyeuristisch-grausame Gier fürs Erste befriedigt hatte – unüberzeugt darum bat, mein Vater möge aufhören, mich zu schlagen.
Und wie sie schließlich ging und die Tür hinter sich schloss, als er nicht auf sie hörte.
Es gäbe so viele Situationen, die ich schildern könnte:
Dass ich manchmal nachts immer noch spüre, wie ich damals als winziges Baby geschrien habe, Licht auf dem Flur, ein Horchen an der Kinderzimmertür, Schritte, die sich wieder entfernten, ohne zu mir zu kommen und wie sich sie Tränen schleimig in meinem Hals sammelten und ich keine Luft mehr bekam und es niemanden interessierte.
Wie ich als Kind laut schreiend, zitternd und weinend aus Alpträumen aufwachte, ohne dass es jemand zur Kenntnis nahm.
Wie meine Eltern mich so lange am Tisch sitzen ließen, bis ich aufgegessen hatte, das dauerte manchmal bis zum späten Nachmittag und Abend. Und wie sie, wenn es ihnen zu lange dauerte, auf mich zukamen, mein Vater mit roher Gewalt meinen Mund aufdrückte und meine Mutter das Essen hineindrückte, einen Löffel nach dem anderen. Wie ich an zähem, kalten Spargel und ebensolchem Fleisch fast erstickte, weil ich es nicht kauen und runterschlucken konnte. Wie ich Ausgespucktes erneut essen und runterschlucken musste. Wie ich ins Badezimmer ging und mich willentlich übergab, um die nächste Stopf-Prozedur überhaupt in mich und meinen Magen hineinzubekommen. Und wie das abwechselte mit Phasen, in denen ich vor Hunger, weil nichts im Haus war, das ich essen mochte, nicht mehr richtig sehen konnte, weil mir so schwindlig war, und nur noch weinte, vor elendem Hunger.
Wie ich meinen Kopf gegen Wände schlug und meine Eltern es sahen und den Raum verließen.
Wie ich mit 13 Jahren meine eigenen Schriftzeichen entwickelte und benutzte, weil meine Mutter beständig in meinen Sachen wühlte und ich meine Privatsphäre (ich schrieb schon als Kind andauernd Geschichten, Gedichte und Tagebuch) nur schützen konnte, indem ich sie daran hinderte, zu verstehen, was sie fand.
Wie ich mir bei Kussszenen im Fernsehen panisch die Augen zuhielt und niemand fragte warum, sondern diese Reaktion meinerseits zur lustigen Familienanekdote am Kaffeetisch diente.

Wie ich Fieber bekam und Husten und Schnupfen und Kopfschmerzen und Bauchschmerzen, sobald ich bei den Eltern meiner Mutter übernachten sollte und wie sie sich alle niemals fragten warum und wie sie mich, als ich mit vier Jahren Windpocken hatte, gleich ganz bei den Eltern meiner Mutter ließen.
Wie ich immer aus dem Bett fiel und im Schlaf schrie und trat und schlug und auch das als lustige Anekdote von einem komplett verrückten Kind diente.
Wie mein Vater mich anschrie, wenn ich keine Spitzenleistungen in der Schule erbrachte und wie ich schon in der Grundschule nicht mehr auf Fragen von Lehrern antworten konnte, obwohl ich die Antwort wusste, weil da nur noch ein Rauschen und Klingen und Schwindel war vor lauter Panik vor einer falschen Antwort und die Trimmung darauf, dass das bei meinem Vater Schläge, stundenlange Qual, die als „Üben“ bezeichnet worden ist, und absolute Demütigung bedeutete. Meine Lehrer gaben mir stets mit auf den Weg, dass ich mich trauen sollte, mich mündlich zu beteiligen und dass ich das könnte, bei den guten Leistungen im schriftlichen Bereich. Meine Eltern meinten mit einem Ekel erregenden, gespielt besorgten Lächeln, ich wäre eben schon immer schüchtern gewesen.
Ich könnte zu Hauf beschreiben, wie meine gesamte Familie meine körperliche Entwicklung mit zehn/elf Jahren und in der Folgezeit mit lüsternden, gierigen Blicken verfolgte, wie sie ohne jede Rücksicht miteinander darüber diskutierten und andauernd, egal ob jemand zuhörte oder nicht, gierige, lüsterne Kommentare und Behauptungen aufstellten.
Wie mein Großvater mir, nachdem er mir zur Begrüßung an die Brüste gegriffen hatte, zum Geburtstag eine fleischfarbene Kerze in Penisform schenkte und wie meine Mutter darüber lachte mit diesem künstlichen, affektierten Geräusch. Wie ich später anmerkte, ich wolle nicht, dass mein Opa mir so etwas schenkt und wie mein Vater achselzuckend entgegnete, ich sei alt genug, um das selbst zu klären und dass ich nicht erwarten könnte, dass sie alles für mich erledigen.

Ich habe die Hölle erlebt. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen
als das, was hinter mir liegt.
Als ich mich mit 16 Jahren allmählich an die brutale Gewalt durch meinen Großvater mütterlicherseits erinnerte und mich in meinem Zimmer verbarrikadierte, wenn er zu Besuch kam, starb dessen Frau ganz plötzlich innerhalb weniger Wochen an Darmkrebs.
Als ich einen Termin beim Jugendamt ausmachte, um meinen Eltern dort von meinem Großvater zu erzählen, glaubten sie mir erst nicht und es hagelte Vorwürfe. Ich würde die ganze Familie zerstören, wie könnte ich nur so egoistisch sein, ob ich sie denn ins Grab bringen wollte. Meine Mutter hatte weiterhin Kontakt zu ihrem Vater, bis sie sich einige Monate später wie erwartet daran erinnerte, dass er sie selbst missbraucht hatte.
Ihr Vater wandte sich dem Alkohol zu und ersoff sich schließlich.
Ich war in der Psychiatrie, was bedeutete, dass diese elende Geheimhaltung endlich ein Ende hatte, weil jeder wissen wollte, wo ich denn war und meine Eltern irgendetwas erklären mussten.
Statt Mitleid für mich wurde meine Mutter bedauert – so ein schweres Schicksal, erst selbst missbraucht und nun auch noch (ach, wie überraschend) das Kind, das nun krank ist. Und auch für meinen Vater musste all das ja furchtbar schwierig sein.
Ich habe sie gehasst, alle miteinander. Ein Cousin von mir meinte, mein Großvater hätte es bestimmt nicht so gemeint und mich – wohlgemerkt ein kleines Kind – bloß mit meiner Großmutter verwechselt bei dem Missbrauch.
Andere Verwandte meinten, das alles wäre nur ein großes Missverständnis. Fast alle hielten Kontakt zu meinem Großvater, es sei ja nicht ihre Sache und er hätte ihnen ja nichts getan und wäre so einsam, seitdem seine Frau gestorben war.
Mein Vater wollte meinem Großvater eine Postkarte schreiben, dass „die Opfer“ noch immer „auf eine Entschuldigung warten“ würden – mit „die Opfer“ meinte er sich selbst und meine Mutter. Als ich damals sagte, dass er dann gefälligst hinter diese beknackte Karte die Namen seiner selbst und meiner Mutter schreiben solle, fiel ihm auf, dass man „wenn man es so sieht“ ja auch mich als Opfer bezeichnen könnte.

Ich schrie, ich tobte, ich weinte, ich versuchte zu erklären, auf jede erdenkliche Art. Meine Eltern waren dennoch der Meinung, sie hätten „es“ nicht wissen können, ich hätte ja nie was gesagt als Kind. Die Frage warum ich wohl nichts gesagt hatte, wie deutlich ich denn bitte hätte werden müssen und wie ich allen Ernstes von Menschen, die mich schlugen, benutzten und auslieferten, erwarten sollte, dass sie mir helfen würden, taten sie als belanglos ab. Verdammte Idioten!
Und was die Schläge anginge, so sei es eben „meine Meinung“, dass mir das geschadet hätte, meine Eltern sähen es eben anders. So hätte eben jeder seine Ansicht. Es sei eben nicht jeder so belesen wie ich und damals war es nun mal so, dass man seine Kinder schlug. Widerwärtige, Tatsachen verdrehende, absolut verantwortungslose Ignoranten!

Und nun, vor einigen Tagen, erreichte mich mit der Post eine sehr kurze Notiz meiner Mutter, „es“ täte ihr leid.
Ich glaubte ihr kein Wort.
Gestern schrieb sie erneut (und nimmt nicht zur Kenntnis, dass ich erklärte, dass ich nichts mehr von ihnen hören will – aber ich reagiere schon seit über einem Jahr nicht mehr und inzwischen fühle ich auch keinen zerrenden Adrenalinschub mehr, wenn ich ihre Schrift sehe) es täte ihr leid, wenn sie sich aufgedrängt hätte.
Ich habe nicht einmal Lust dazu, mich zu fragen, wie um alles in der Welt man so hirnverbrannt, geistig verreckt und ein emotionaler Hackbraten sein kann, um alles, was ich sagte in den letzten Jahren und die kurze Erklärung zum Kontaktabbruch meinerseits so zu deuten, dass ich mich deshalb nicht mehr melde und nicht mehr auf ihre Gesuche reagiere, weil sie sich mit Paketen und Briefen aufgedrängt hätte.

Ich weiß jetzt, warum ich mich als Kind gefühlt habe, als würde ich irgendeine Außerirdischen-Sprache sprechen und warum ich stets versuchte, meine eigene, klarere, präzisere Sprache zu finden und warum ich immer wieder, mein Leben lang, Phasen hatte, in denen ich das Sprechen einfach völlig aufgab.
Es ist das Gefühl, sowieso nicht erhört und verstanden zu werden und die Weigerung, mitzumachen bei dem Missbrauch von Worten.
Meiner Familie war es verdammt egal, was ich sagte. Sie hörten, was sie hören wollten und redeten mir ein, ich hätte es tatsächlich gesagt oder wenigstens gemeint. Ich solle mich eben besser ausdrücken, es sei ja kein Wunder, dass sie mich nicht verstehen könnten und infolge dessen „Missverständnisse“ (der Euphemismus für rohe Gewalt) entstünden.

Als ich 16 war, ritzte ich mir Wörter in die Haut meiner Beine, monatelang. „Schmerz“ war eins davon. Das konnte man nicht übersehen (obwohl ich es niemals jemandem gezeigt habe), das war die Sprache, die mir buchstäblich unter die Haut ging und mir entsprang. Mit Blut geschrieben, dem Innersten überhaupt.
Makaber und grausam. Daran kann man erkennen, wie sehr ich schrie und redete und weinte und es niemand hörte und ich nach der Sprache suchte, die ursprünglich, verständlich, rein war, weil ich annahm, der Verständigungs-Defekt läge an mir – und nicht daran, dass meine Familie mich gar nicht hören wollte.
Heute sehe ich die Narben immer noch, die Schnitte gingen sehr tief damals.
Ich habe darum geweint und weine immer noch manchmal, wenn ich die hellen, blassen Wörter sehe, die wie Tätowierungen in meiner Haut sitzen und wohl auch immer dort bleiben werden, Nachrichten aus der Hölle.
Heute erinnern sie mich daran, warum mir meine Mutter mit ihren inhaltslosen, manipulativen Notizen gestohlen bleiben kann.
Ihr fehlen meine Stimme und mein Lachen, schrieb sie – im Klartext heißt das: Ihr fehlt meine Unterstützung, mein Sonnen-Sein, mein Kreisen um ihre Welt, meine Fürsorge für sie.
Ich habe kein Mitleid mehr mit dieser Frau.

Als mein Großvater mütterlicherseits starb (er war wie seine Frau erst knapp über 60 Jahre alt), hat es mich erst kalt gelassen, für mich war er sowieso schon tot. Und dann ein paar Tage später habe ich aufgeatmet und gedacht: das hast du verdient, Drecksack. Totgesoffen und elendig und allein gestorben und erst zwei Tage nach seinem Tod von meinem Onkel gefunden.
Als mein Vater seinen Unfall hatte, kurz nach meinem Auszug, war nur der Gedanke da: Genau, was ich erwartet habe. Ich hasse diesen Mann mit jeder einzelnen Sehne, jeder einzelnen Pore, jedem einzelnen Bluttropfen in mir. Er wäre bei dem Unfall fast gestorben, lag im Koma und war dann sehr lange im Krankenhaus. Ich habe mich nicht bei ihm gemeldet.
Es war damals eine seiner Maschen: mit Unwohlsein und (echter oder vorgespielter) Krankheit Mitleid zu erheischen und es zu benutzen und gnadenlos auszunutzen. Dieses Mal nicht. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er wirklich gestorben wäre.
Und dieses Mal falle ich auch nicht auf die Mitleids-Masche meiner Mutter herein. Ich weiß inzwischen zu viel über sie, als dass ich übersehen könnte, dass es sich um reine, grausame Manipulation handelt.
Ihre Notizen erwecken in mir nur noch ein zynisches Schnauben und die Handlung, die Notiz zu zerknüllen und dorthin zu verfrachten, wo sie hingehört: in den Müll. Sie können alle nicht ohne ihren Sündenbock. Jetzt sind sie alle auf sich selbst zurückgeworfen und das bekommt ihnen gar nicht. Und ehrlich gesagt empfinde ich ein deutliches: Das habt ihr verdient! Das und noch viel mehr.

All ihre Nachrichten, die sie hin und wieder per Post schickt, haben anfangs sehr zu einem Zusammenfallen meiner Selbst beigetragen.
Es war, als griffen gierige Arme nach mir, ich wanderte ruhelos in meiner Wohnung auf und ab, mein Herz schlug erbärmlich schnell und dünn, ich schwitzte richtig schlimm, war für Stunden, manchmal ganze Tage vollkommen unkonzentriert und musste buchstäblich darum kämpfen, nicht zum (ausgestöpselten) Telefon zu greifen und sie anzurufen.
Ich kämpfte jedes Mal und gab dem kranken, fremdbestimmten Drang nicht ein einziges Mal nach. Ich erinnerte mich daran, wie ausgezerrt und müde und am Boden ich mich grundsätzlich nach Telefonaten mit ihr fühlte, ich sah die Narben an meinen Beinen, bemerkte meine körperliche Rebellion und Panik, ich las in alten Tagebüchern.
Und irgendwann lernte ich, mich zu schützen vor diesem Kontakt-Befehl und diesem eingeimpften Gift, ich hätte mich um sie zu kümmern.
Ich kümmerte mich um mich – und hörte gleichzeitig ihre Stimme in mir, ich sei so verantwortungslos und egoistisch, womit sie nur so etwas wie mich verdient hätte.
Heute spüre ich, dass sie die Tatsachen vollständig verdreht. Und ich kann damit leben, dass sie mich für arrogant und kalt hält. Ich weiß, dass es nicht stimmt und bin nicht darauf angewiesen, dass sie mir glaubt. Ich glaube mir auch ohne ihre Erlaubnis und ohne ihre Zustimmung.

Mein Weg geht weiter und es wechselt ab zwischen absoluten Höllenqualen in der Erinnerung und plötzlichen Gefühlen, die durch Banalitäten ausgelöst werden – und einem warmen Gefühl, dass ich mich inzwischen auf mich selbst verlassen kann und mich gern habe.
Inzwischen nehme ich mir das pure Recht raus, im Bett zu bleiben, wenn ich nicht aufstehen kann, weil mich Todesqualen von früher quälen. Oder wenn ich einen Tag brauche, der mir einfach gut tut, ohne jede Verpflichtung.
Meine eigene innere Stimme ist lauter geworden und impulsiver und je mehr Beachtung ich ihr schenke, desto mehr blüht sie auf und desto machtloser werden die alten Stimmen meiner Eltern, Großeltern und anderer Verwandter und Nichtverwandter.

Als es mir Anfang des Jahres richtig schlecht ging, schrieb ich einige Beratungsadressen per Mail an.
Die Antworten waren haarsträubend!
Mir wurde geraten, doch Antidepressiva zur Stabilisierung zu nehmen. Mir wurde geraten, mich an schöne Dinge zu erinnern und daran, wie ich „Krisen“ in der Vergangenheit überwunden hätte. Mir wurde zu Gruppen geraten, die mit diversen vollkommen hirnlosen Übungen stabilisieren sollten.
Keiner, nicht ein einziger (und darunter waren einige bekannte auf Gewalt spezialisierte Beratungsstellen) hat verstanden, dass es mir nicht darum geht, zu verdecken und mich „zu stabilisieren“, was im Klartext verdrängen heißt, sondern dass ich sprechen wollte, über das, was mit mir geschehen ist.
Sie haben nicht verstanden, dass man nur dann stabil werden kann, wenn man ganz ist und dass man nur dann ganz wird, wenn man weiß und fühlt, aufrichtig.

Danke für Ihre Publikationen und diese Webseite und auch für Ihre Antworten auf meinen anderen Brief („Leid, Wut und Herz“),

M. T.

AM: Sie mussten Jahre hindurch in einer Hölle “leben”. Viele Menschen gehen durch solche Höllen und retten sich mit der Verleugnung, Anpassung und Verdrängung, doch Ihnen scheint sehr viel Wissen übrig geblieben und sehr viel Mut, um darüber zu berichten. Es ist Ihnen gelungen, Ihre Integrität zu bewahren und ein fühlender Mensch zu bleiben. Das ist sehr selten möglich. Sie ließen sich nicht verwirren, sich nicht Schuldgefühle aufladen, um doch noch als die gute Tochter geliebt zu werden. Sie blieben sich treu und lassen sich auch jetzt nicht blenden, wenn Ihre Mutter um Sie wirbt. Sie lassen sich nicht in die Fallen locken, nachdem Sie sie so gut erkannten. Dazu gratuliere ich Ihnen ganz herzlich.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet