Leid, Wut und Herz

Leid, Wut und Herz
Sunday 01 July 2007

Hallo Frau Miller,

ich bin 22, beschäftige mich, seit ich etwa elf bin, mit allem, was irgendwie in die Richtung Psychologie geht und habe schon damals herausfinden wollen, was eigentlich mit mir und den Menschen um mich herum los ist. Gefunden habe ich Antworten auf diese Frage natürlich nicht in irgendwelchen theoretischen und vollkommen entmenschlichten Wälzern.
Ich war froh, auf Ihre Bücher gestoßen zu sein. Sie haben Wahrheiten in mir bestätigt, die mir niemand sonst bestätigen will. Ich fühle mich wirklich mutterseelenallein. Das ist nichts neues, ich habe mich schon als Kind permanent allein gefühlt. Die Menschen um mich herum verschließen ihre Augen und – was noch viel schlimmer ist – ihr Sein, ihre Gefühle, ihre Echtheit.
Engere soziale Kontakte habe ich eigentlich gar keine. Ich kann mit keinen Menschen um mich herum leben, die nur halb anwesend sind.
Im Moment geht es mir schlecht. Meine Kindheit war dunkel und kalt und grausam. Ich wurde missachtet, verlacht, sexuell missbraucht, geschlagen und vieles mehr.

Mein Vater hat mich nieder gemacht und sich nur um mich ‘gekümmert’, wenn er bewundert werden wollte. Oder wenn es um Schulnoten ging. Hatte ich keine eins oder zwei, wurde ich angebrüllt, als Versagerin betitelt, er meinte, jemand mit einer so schlechten Note könne unmöglich sein Kind sein und dass er seine Unterschriften nicht unter Arbeiten setzt, die schlecht wären. Ich war nie wirklich schlecht in der Schule, ich war im Grunde eine der besten. Trotzdem hatte ich in den ersten vier Schuljahren permanent Angst, sitzen zu bleiben (obwohl ich fast nur Einsen auf dem Zeugnis hatte und ein paar Zweien). Er hat stundenlang bis spät abends mit mir das ‘geübt’, was ich angeblich noch nicht beherrscht habe, hat dabei nur geschrien, mit Kreide und Pantoffeln um sich und auf mich geworfen und zugeschlagen. Ich kann die Schläge auf den Kopf, auf Rücken und Po und überall, wo er völlig außer sich noch mit Gegenständen und Händen getroffen hat, noch nachfühlen. Ich kann noch fühlen, wie es in mir völlig leer war, ich wollte Antworten auf seine Fragen geben, um nicht wieder Schläge zu kassieren, aber ich konnte nicht sprechen. So als hätte ich einfach vergessen, wie das geht. Stattdessen weinte ich, was ihn nur noch mehr aufregte und nur noch mehr zum schlagen und schreien animierte. Ich fühle noch, wie ich nicht mehr konnte, wie ich nicht mehr weiter atmen wollte, wie es spät wurde und ich so unendlich müde. Und wie ich dann irgendwann ausgestiegen bin und gar nichts mehr habe fühlen können.

Meine Mutter war nicht besser. Nach außen hin war sie zu allen freundlich, war enorm zuvorkommend und hilfsbereit. In Wirklichkeit aber wollte sie Kontrolle und Macht, so heimlich und unterschwellig, dass es niemand mitbekommt. Sie hat mich permanent kontrolliert, alles, was ich tat und nicht tat, hat sie beobachtet, erfragt und kommentiert und weiter erzählt. Ich hatte keinen eigenen Raum. Vor anderen hat sie mich immer als kleines schüchternes Dummchen dargestellt, das gar nichts allein könnte und dringend auf Hilfe und ständige Begleitung angewiesen wäre.
Außerdem vermute ich, dass sie mich als Kind (ganz sicher als Baby, eventuell auch noch später) sexuell missbraucht hat. Ich fühle es einfach. Und ich fühle auch, dass sie mich mit irgendwelchen Beruhigungsmitteln ruhig gestellt hat. Ich war gelähmt, mein Herz setzte aus, ich konnte nicht mehr atmen, ich wäre ein paar Mal fast gestorben.
Meine Großeltern waren ähnlich grausam. Sexueller Missbrauch, Manipulation, Ausnutzung, Quälerei von Tieren, die ich geliebt habe und teilweise der Mord an ihnen.
Ich habe mich gefühlt wie in einer Folterkammer, ständig in Panik vor der nächsten Folter und noch dabei, die letzte einigermaßen zu ‘verarbeiten’, während die nächste schon folgte.

Als ich siebzehn war, begab ich mich in eine Therapie, hinter dem Rücken meiner Eltern. Im gleichen Jahr verbrachte ich zwei Monate in einer Psychiatrie, was sie dann natürlich mitbekamen. Meine Eltern waren weder in der Therapie noch in der Psychiatrie jemals wirklich Thema (nur am Rande). Es ging hauptsächlich um die Schädigungen durch meine Großeltern. Meine Eltern zeigten sich gespielt betroffen, betonten sofort, dass sie von all dem gar nichts gewusst hätten.
Sie haben niemals nachgefragt, sie haben sich niemals interessiert, sie haben niemals auch nur ein Minimum an Einfühlung gezeigt. Als ich später auch mit Vorwürfen meinen Eltern gegenüber herausplatzte, zeigten sie sich schockiert. Ich solle „das Ganze mal ohne Gefühl“ betrachten, wie mein Vater meinte. Dann würde ich erkennen, dass sie nichts schlimmes und unrechtes getan hatten und ich überdramatisiere.
– Auf meine Entgegnung hin, dass es aber um Gefühle ginge und eine Bewertung von Taten hinsichtlich ‘Unrecht’ und ‘schlimm’ nur über das Gefühl funktioniert, hat mein Vater einfach den Raum verlassen und den Fernseher angestellt.

Die Therapie dauerte insgesamt dreieinhalb Jahre.
Ich hasse diesen Therapeuten heute. Auch er hat mich manipuliert und benutzt. Er hat beständig meine Eltern verteidigt (und gleich darauf von seiner kranken Mutter erzählt, der er ja auch verziehen hätte, sie hätte nun mal nicht anders gekonnt…), hat mein Leid nicht ernst genommen, immer nur so getan. Und sich im letzten Jahr der Therapie einfach so viel Raum in der Therapie genommen, dass es eigentlich nur um ihn und ziemlich abstruse esoterische ‘Erlebnisse’ (wir hätten uns aus früheren Leben gekannt, hätten eine sexuelle Beziehung zueinander gehabt, ich hätte ihn damals verraten und damit auch umbringen lassen) ging. So etwas wie ein Therapie-Abschluss-Gespräch gab es nicht. Stattdessen eine üble zweistündige Sitzung, in der neben mir auf der Couch saß, meinte, ich wäre einer der Menschen, die er lieben würde und mich beständig an Händen, Armen und im Gesicht berührt hat.
Er wollte noch weiter Kontakt, der sich letztlich darauf beschränkt hat, dass er mir per Mail immer wieder angebliche Erinnerungen an sexuelle Geschehnisse irgendwelcher vergangener Leben zwischen uns mitteilte.

Er hat mein Vertrauen missbraucht und mich benutzt, vollkommen rücksichtslos.
Als mir das (nach Ablauf der Therapie) klar geworden ist, hat es mich komplett aus der Bahn geworfen. Ich hatte sehr besorgniserregende Herzaussetzer und -schmerzen, konnte kaum mehr aufstehen, manchmal hat auch das Atmen seinen Dienst versagt. Kurz gesagt: ich habe oft gedacht, ich würde einfach so sterben.
Das waren Wochen, in denen ich andauernd in Tränen ausgebrochen bin, so sehr, dass es mich am und im ganzen Körper geschüttelt hat und ich der ganzen Welt misstraut und keinen Grund zum Weiterleben gesehen habe (weil ich glaubte, dass weiterleben in dieser Welt und Kontakt zu Menschen nur weiteren unerträglichen Schmerz bedeuten würde).
Danach kam etwas zum Vorschein, das ich als Kind in keinem Fall hatte haben dürfen: Wut.
Und ich stand wieder auf.
Ich brach den Kontakt zu meinen Eltern endgültig ab, zu meinem Bruder (der unseren Eltern leider treu ergeben ist) ebenfalls; und zu anderen Verwandten hatte ich sowieso keinen Kontakt mehr.
Und ich schrieb eine Mail an den Therapeuten, klagte ihn darin an. Er antwortete mit Nicht-Antworten und einer sehr deutlichen Abwehr und ständigen Betonung, dass ich mit Sicherheit die einzige seiner Patientinnen wäre, mit dem ihm „so etwas“ (immer schön unkonkret) „passiert“ sei (und nur Formulierungen im Passiv, als hätte er rein gar nichts getan und die Situation sich einfach so ergeben). Das hat mich nur noch wütender gemacht und ich schrieb eine weitere Mail. Er meinte, sein Verhalten sei auf ganz spezifische „seelische Resonanzen“ und Zuneigung und Berührtheit durch seine eigene Lebensgeschichte zurückzuführen und das wäre etwas einmaliges gewesen und „es“ täte ihm leid.
Auf eine anschließende Mail, in der ich schrieb, dass er Arroganz und Grausamkeit, Missachtung, Ausnutzung und Skrupellosigkeit nicht mit Berührtheit und Zuneigung erklären kann, da Berührtheit und Zuneigung all das grundsätzlich ausschließen, habe ich keine Antwort erhalten.

In der Zeit nach dieser Nicht-Antwort habe ich mich mit Schokolade betäubt. Statt Wut gab es auch in meiner Familie immer Schokolade. Jetzt spüre ich richtige ‘Entzugs-Erscheinungen’ – und endlich, wie ich wieder unbetäubt und ungelähmt werde und meine Wut und Empörung und damit auch meine Kraft, aufzustehen und weiterzuleben, wieder spürbar werden.
Ich fühle den Drang, das Geschehen in die Welt hinausschreien zu wollen und mit dem Finger auf meine Familie und den Therapeuten zu zeigen und einfach nur die Wahrheit sagen zu wollen.
Ich kann es weniger denn je ertragen, unecht zu sein. Und die Misshandlungen durch Familie und Therapeut sind nun mal Teil meiner Wahrheit, ganz unleugbar.
Ich spüre, schon in den ganzen vergangen Jahren, aber besonders jetzt sehr zunehmend, den Drang, den tiefen Wunsch danach, einfach nur ich zu sein.
Nur wird das für die meisten unbequem und auch für mich nicht einfach, weil meiner Erfahrung nach die meisten Menschen sich von Wahrheit angegriffen fühlen (selbst wenn sie gar kein Angriff ist).
Weil ich mit dem Gefühl, unwahr und unecht und gedämpft und immer nur zur Hälfte (wenn überhaupt) anwesend sein zu können, so wenig leben kann, dass mir auch körperlich regelrecht schlecht dabei wird und ich einfach anfange zu zittern, kann ich mit keinem mir bekannten Menschen etwas anfangen. Ich fühle mich bei keinem wohl, weil es sich immer so anfühlt, als würde ich beschnitten und gedämpft werden. Nur wenn ich allein bin, fühle ich mich ganz und echt.
Und im Moment bin ich wütend. Und meine Wut will sich nicht über das Schlagen von Kissen oder ein Schreien in irgendeiner verlassenen Gegend äußern – so etwas habe ich für mich schon immer als Degradierung meiner Wut empfunden. Dadurch löst sie sich nicht, dadurch fühlt sie sich nur belächelt und nicht ernst genommen und außerdem so, als würde sie möglichst schnell und einfach aus dem Weg geräumt werden sollen. Zumindest ist das mein deutliches Gefühl dazu.
Meine Wut sagt eindeutig, dass sie es so satt hat, ständig zu schauspielern und angepasst und brav und lieb und nett und zuvorkommend und selbst-los zu sein und dass sie das keinen Monat länger ertragen kann, sondern dass ich nur weiterleben kann, wenn ich endlich ich bin, mit allen unbequemen Konsequenzen. Weil ein anderes Leben als mein eigenes zu leben sich für mich nicht lohnt, sondern bedeutet, halbtot zu sein. Ich will nur mein Leben leben und ich will nur ich sein, ganz.

Was schön ist, ist die kürzliche Erfahrung, in diesem Haufen aus Wut mein Herz gefunden zu haben. Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Ein echtes und warmes Gefühl. Es gibt etwas heiles und unbeschädigtes in mir. Etwas, das da ist und mich mich selbst fühlen lässt. Und das mich vor Glück weinen lässt, dass es da ist und dass ich ich bin und nicht ein gefühlskalter und fremdgesteuerter Mensch. Da ist das Gefühl, mich niemals ganz selbst verraten zu haben und mich niemals ganz selbst aufgegeben zu haben. Sondern unterschwellig immer vor hatte, mich zu retten, um eines Tages leben zu können.
Ich habe mich als Kind immer daran festgehalten, dass ich mal ein Mensch werden würde, den ich mögen würde und der mich (das Kind) noch kennt und nicht vergessen hat. Das war mein Versprechen an mich selbst. Ein damaliger Deal mit dem zukünftigen älteren Selbst: Ich überlebe und du sorgst dafür, dass es Zukunft gibt, die lebenswert ist.
Weil das Kind nur überleben konnte, wenn es sich an der Vorstellung einer lebenswerten Zukunft wärmen konnte. Und weil die Erwachsene nur leben kann, wenn sie sich an das Kind erinnert.
Das habe ich schon als kleines Kind begriffen. Damals dachte ich, dass 22 für mich ein gutes Alter wäre, mit dem richtigen Leben anzufangen. Jetzt bin ich 22. Und immer noch der Meinung, dass das Kind, das ich war, Recht hatte.
Sie, Frau Miller, schreiben davon, dass man, um nicht ganz skrupellos zu werden, als Kind wissende, liebende Zeugen bräuchte, sofern ich Sie in diesem Punkt richtig verstanden habe. Ich kann mich an keinen real existierenden in meinem Leben erinnern. Nur an eine riesige Fantasie, an Fantasiefreunde, an Geschichten, an beständige freundliche und wohlwollende Begleiter in Träumen. An den Willen, mein Herz zu behalten. Und daran, dass ich mich selbst, mein wirkliches Ich, als Hoffnung zum Überleben gebraucht habe.

Liebe Grüße und meinen Dank für ihre Bücher,
M.

AM: Es grenzt an ein Wunder, dass es Ihnen gelungen ist, Ihr wahres Wesen zu beschützen und sich nicht den Hass, die Bösartigkeit, die Kälte und die Verlogenheit zuzufügen, die Sie von Ihrer Umgebung erfuhren. Sehr oft behandeln wir uns nämlich so, wie wir behandelt wurden. Da sind Sie eine große Ausnahme. Ich denke, dass Sie Ihr Kind mit Ihrer Redlichkeit und Weisheit weiter begleiten werden, auch wenn es Ihnen den berechtigten Zorn zeigen wird, gegen die Eltern und den Therapeuten. Wenn der Hass bestehen bleibt, werden Sie sicher Aktionen wählen können, die Ihre starken Gefühle zum Ausdruck bringen werden, ohne sich durch die Angst davon abhalten zu lassen. Der Therapeut hat Sie ausgenutzt und betrogen, es mag sein, dass Sie sich mit seinem Schweigen nicht zufrieden geben wollen. Warum sollten Sie auch? Sie haben für einen Betrug und einen gewaltigen Missbrauch bezahlt, es steht Ihnen ja zu, das Geld von ihm zurückzuverlangen, wenn Sie den offensichtlichen Missbrauch nachweisen können. Und dies scheint Ihnen möglich zu sein.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet