Nicht mehr in Gefahr

Nicht mehr in Gefahr
Thursday 27 April 2006

Sehr geehrte Frau Miller,

ich habe eingentlich nur ein paar Fragen:

ist es ungewöhnlich, wenn ich mich noch sehr gut an Gefühle und Eindrücke erinnern kann, die in meiner frühen Kindheit statt gefunden haben? Ich habe oft mit meinem Bruder darüber gesprochen, weil er sich nicht an seine Kinderzeit erinnern kann. Ich kann das sehr wohl, und ich möchte nicht gerade behaupten, dass es zum Teil schöne Erinnerungen sind. Aber ich habe diese schlechten Erinnerungen bis vor einem halben Jahr nicht wahr haben wollen. Oder anders ausgedrückt: Ich wollte nicht, dass es schlechte Erinnerungen sind.
Meine Mutter hat vor kurzer Zeit etwas gesagt, was mich (wieder mal) sehr nachdenklich gestimmt hat. Wir saßen bei ihr im Wohnzimmer und unterhielten uns über meine Therapie. Von Ende August bis Ende Dezember war ich in 16-wöchiger Therapie; ich bin seit meinem 12. Lebensjahr Polytoxicoman. Also „Mehrfachabhängig“. Wieder einmal unterhielten sich meine Mutter und ich darüber, warum ich so bin wie ich bin, weshalb so sensibel, weshalb es immer allen recht machen wollen, warum von allen geliebt weden wollen. (Ich muss dazu schreiben: ich habe dieses Thema in meiner Therapie bearbeitet und bin gar nicht mehr bereit, es allen recht machen zu wollen oder das alle mich lieb haben müssen. ) Meine Mutter sagte dann folgendes:“ Ich verstehe dich nicht. Als du zwei Jahre alt warst und wir noch in Krefeld gewohnt haben, warst du schon so komisch. Ich sitze mit dir in der Straßenbahn. Uns gegenüber eine wildfremde Frau. Du starrst sie an, siehst mich an und sagtst: …und die liebt mich auch nicht! Das ist doch nicht normal!“
Natürlich weiß ich mittlerweile, dass ich nicht „normal“ bin. Aber in diesem Moment war ich ehrlich gesagt geschockt, weil ich gedacht habe: meine Tochter hätte ich erst einmal gefragt, wie sie darauf kommt, dass keiner sie liebt. Das alles bestätigt mein Gefühl, dass ich mit mir selber immer alleine war. Nie, nicht einmal, habe ich meinen Eltern oder meinem Bruder gegenüber geäußert, was ich denke oder fühle. Ich wollte ja niemanden verletzen. Ich war ja perfekt; ich konnte alles alleine. Wie stolz war meine Mutter auf mich, als ich im Alter von fünf Jahren (meine Eltern waren wieder einmal nicht da) meinen Bruder umsorgt habe, als er angefangen hat sich zu erbrechen. Meinen Puppenwagen habe ich ausgeräumt, damit er ein Kissen zum Schlafen hat. Seine (voll gekotzte) Wäsche hatte ich in die Badewanne gelegt und Wasser drüber laufenlassen, damit es einweichen kann. Und immer wieder diese Angst: Ich muss das alles auch alleine können, denn vielleicht kommen meine Eltern gar nicht wieder!
Während meiner Zeit in Therapie hatte ich ständig Alpträume. Diese Träume hatte ich auch vorher schon, aber dort konnte ich sie in der Gruppe besprechen. Immer wieder habe ich geträumt, dass ich irgendwo stehe und dabei zusehe, wie eine Katastrophe auf die beiden Kinder zukommt, die da in diesem Haus waren. Es war ein Gefühl, als würde ich einen Horrorfilm sehen…ich weiß, dass etwas ganz schreckliches passiert, aber ich kann niemanden warnen, denn ich bin nur Zuschauer. In meinen Träumen habe ich geschrien und vor Verzweiflung geweint. Bis dahin war ich immer der Meinung gewesen, ich würde von meinen eigenen Kindern träumen. Meine Therapeutin machte mich dann darauf aufmerksam, dass diese Kinder wahrscheinlich mein Bruder und ich sind. Denn wir waren (seit ich ca. 18 Monate alt war) jeden Abend alleine zu Hause (mein Bruder ist nur 13 Monate jünger als ich).
Als mein Sohn zur Welt gekommen ist, hat sich meine Mutter immer gewundert, warum mein Mann und ich abends nicht raus gehen. „Der Kleine schläft doch. Der merkt doch gar nicht, wenn ihr nicht da seid. Bei euch (meinem Bruder und mir) haben wir das auch getan und ihr seid nicht einmal wach geworden und habt es bemerkt!“
1.: Woher will sie das wissen, wenn sie doch gar nicht anwesend war???
2.: Warum habe ich (und ich kann mich, ab einem Alter von 2 Jahren, sehr gut daran erinnern) abends, nachdem wir zu Bett gebracht worden waren, immer noch ein paar mal gefragt: Mama, bist du noch da?“

Jahrenlang habe ich das alles als völlig normal gesehen. Dachte ich zumindest. Nur in mir drin rumort etwas schon seit Jahren. Im Alter von 12 Jahren wurde ich, wie schon erwähnt, abhängig von mehren Substanzen. Jahrelang habe ich meiner Mutter erzählt, dass sie nicht daran schuld hat, sonder dass ich es war, die ja unbedingt Drogen „probieren“ wollte. Beinahe hätte ich das sogar selber geglaubt.
Mittlerweile ist mir klar geworden, dass ich nur einfach nicht mehr ständig nachdenken wollte. Ich habe diese Depressionen nicht mehr ausgehalten. Ich wollte keine Verantwortung mehr für meinen Bruder (und meine Eltern) übernehmen. Ich wollte „Ich“ sein. Mit den Drogen habe ich mich geschützt. Wenigstens ein paar Jährchen lang. Ich habe mir jegliches Gefühl weg gedröhnt. Aber irgendwann ging auch das nicht mehr. Also bin ich in besagte Therapie gegangen. Und: Das erste mal in meinem Leben, habe ich mich wirklich als mich gespürt. Ich habe mich wieder selber wahr genommen, als das, was ich bin: ein Mensch, der auch ruhig Fehler haben darf. Ein Mensch, der auch schöne Seiten hat und Qualitäten. Ich habe Talente an mir entdeckt, von denen ich gar keine Ahnung hatte, dass sie in mir schlummern.

Ich arbeite weiter an mir und ich kann Ihnen sagen, dass es wirklich nicht einfach ist. So manches bringt mich immer noch total durcheinander. Und ab und zu schier zur Verzweiflung! Vor allem, seit dem ich erkennen musste (und das ist erst ein paar Tage her!), dass meine Mutter kein Übermensch ist. Sie ist nicht perfekt (wer kann das schon sein!) und ihre Meinung ist auch nicht immer die Richtige. Klar, ich habe heute den Vorteil, dass ich mittlerweile 39 Jahre alt bin und für eine Meinung, die ich habe, nicht mehr durch die Zimmer geprügelt werde. Heute habe ich das Recht zu gehen, wenn es mir zuviel wird! Ich bin zu „groß“, als dass meine Eltern mich noch zur Vernunft prügeln könnten.

Aber glauben Sie mir… das alles ist alles andere als „einfach“!!!

Liebe Grüße

A. K.

AM: „Das alles ist nicht einfach“, schreiben Sie, ich glaube es Ihnen, aber ich möchte hinzufügen, dass diese Arbeit richtig und unbedingt nötig sei. Und Sie werden Erfolg haben. Sie fragen, ob es üblich ist, so viele frühe Erinnerungen zu haben. Nein, es ist ganz und gar nicht üblich, das höre ich sehr selten. Hingegen gehört es zur Regel, dass die schlechten Erinnerungen verharmlost werden, was auch Sie im gewaltigen Ausmaß tun. Sie sind 39 und haben erst vor einigen Tagen(!!!) realisiert, dass Ihre Mutter kein Übermensch und nicht perfekt sei und ihre Meinungen nicht immer richtig seien. Wo haben Sie denn bisher gelebt? Wurden Sie von den vielfachen Abhängigkeiten so stark von Ihren Realitäten ferngehalten? Doch Sie wissen ja vieles, aber Sie dürfen nicht die Konsequenzen daraus ziehen. Warum? Sie schreiben selbst, dass Sie als Kind durch die Zimmer geprügelt wurden. Was haben Sie mit diesem Wissen getan, um nicht in eine rasende Wut auszubrechen? Sie sind doch jetzt erwachsen, niemand kann Sie mehr prügeln, wie Sie mit Recht sagen. Was befürchten Sie denn HEUTE? Versuchen Sie in meinem letzten Buch „Die Revolte des Körpers“ das Kapitel über die Drogen zu lesen. Auch meine letzten Artikel auf der Webseite und die FAQ Liste. Ich denke, dass wenn Sie sich erlauben, zu fühlen, wie Ihre Eltern Sie geschädigt haben, durch die massive Überforderung, totalen Mangel an Verständnis (das 2jährige Mädchen im Tram hatte schon mehr davon), durch das Verlassen nachts, durch Schläge, durch die Zerstörung Ihrer (bewussten) Gefühle (die aber zum Glück in Ihrem Köörper leben), dann werden Sie möglicherweise sehr schnell von Ihren Abhängigkeiten wegkommen. Diese sind der Preis, den Sie bezahlen mussten, um als Kind nicht sehen zu müssen, wie Ihre Eltern wirklich waren und wie zerstörerisch sie mit Ihnen umgingen. Sonst wären Sie gestorben. Doch jetzt sind Sie kein Kind mehr, und Sie können sich leisten, GENNAU HINZUSCHAUEN, im Wissen, dass Sie nicht mehr in Gefahr sind.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet