Klarsicht

Klarsicht
Friday 27 February 2009

Liebe Frau Miller

Mit unendlicher Dankbarkeit schreibe ich Ihnen diese Zeilen. Nachdem ich ein
paar Ihrer Bücher gelesen habe, fiel es mir buchstäblich wie Schuppen von den
Augen, was ich all die Jahre von mir selbst verlangt habe. Endlich kann ich
aufhören damit meine sadistischen Eltern zu verherrlichen oder zu bemitleiden.

Ich bin als jüngste von fünf Mädchen geboren. Ich war nicht willkommen, das
hat mir meine Mutter immer wieder gesagt und auch gezeigt. Weil ich ein
Schreibaby war wurde ich nächtelang in’s Badezimmer gestellt und links
liegen gelassen. Mein Vater hat mich geschüttelt vor Wut und meine Mutter hat
mir manchmal ein Kissen in’s Gesicht gedrückt bis ich ohnmächtig wurde.
Später waren brutale Schläge mit Teppichklopfer, Reisigruten und Ledergurt an
der Tagesordnung. Oft wurde ich in eine Art Dunkelkammer gesperrt wo ich
stundenlang ausharren musste und unglaublich Angst hatte. Eine meiner Schwestern
ist geistig behindert und ich ahne heute dass diese Behinderung ebenfalls durch
die gleiche „Behandlung“ wie bei mir entstanden ist. Nach Aussen waren
meine Eltern perfekt und betreuten als Clubmitglieder Kinder denen es schlecht
ging. Mein Vater war ein Held für viele dieser Kinder und niemand ahnte was
hinter verschlossenen Türen geschah. Ich habe mich als Kind immer geschämt
wenn ich blaue Flecken oder Fingerabdrücke von Ohrfeigen im Gesicht hatte.
Jedesmal wenn mein Vater mich zusammengeschlagen hatte, kam meine Mutter
(manchmal mit einer Genugtuung im Gesicht) und sagte, ich sei ganz selber
schuld, weil ich meinen Vater oder sie provoziert hätte. Dies hatte zur Folge,
dass ich die ganze Verantwortung für die brutale Gewalt unbewusst übernahm.
Ich dachte tatsächlich jahrelang dass ich selbst schuld bin an all diesen
Misshandlungen.

Nach und nach begann ich Therapien zu machen mit Psychologen, Schamanen,
Naturheiler u.s.w. aber der Schmerz sass so tief, dass es Jahre brauchte diesen
„tropfenweise“ zulassen zu können. Rückblickend sehe ich ganz klar,
dass jede meiner Beziehungen zu Männern geprägt war von meiner Beziehung zu
meinem Vater. Ich liess mich missbrauchen, verletzen, ignorieren und suchte den
Fehler ständig bei mir. Hatte das Gefühl ich sei nicht liebesfähig sonst
könnte ich diese verletzenden Beziehungen ertragen… Es war ein Teufelskreis
und ich bin froh dass vor zwei Jahren so starke Depressionen entstanden, dass
ich nicht mehr wegschauen konnte. Tagelang sass ich wie abgestorben zu Hause und
sah all die Bilder aus meiner Kindheit hochkommen. Gelähmt und unfähig damit
nach Aussen zu gehen. Ich begann mich selbst zu „therapieren“ und fand
den weisen Zeugen in mir, der mich begleitete durch diesen unglaublich
schmerzhaften Prozess. Und immer noch ging ich fast täglich zu meinen Eltern,
lächelte sie an und tat so alsob sie die besten Eltern der Welt wären. Ich
wusste ja dass auch sie brutale, lieblose Eltern hatten, die sie misshandelten
und sie eigentlich nicht anderst gekonnt hatten, als den Schmerz an mich
weiterzugeben. Habe sie immer und immer wieder entschuldigt und meinen Schmerz
damit abgewürgt.

Meine beiden Töchter habe ich nie geschlagen, ich habe mir schon mit 15
geschworen, dass ich niemals solche Gewalt anwenden würde gegen meine Kinder.
Wir haben erstaunlicherweise eine total schöne und offene Beziehung. Das
einzige was ich meinen Mädels mitgab ist dass sie ihre „negativen“
Gefühle unterdrücken und wie ich nicht weinen können, ausser es kommt ganz
dick. Aber wir sprechen darüber und seit ich meinen eigenen Schmerz zulassen
kann, halte ich dies nicht mehr zurück und lasse sie daran teilhaben statt
ihnen vorzumachen was für eine starke Frau ich bin, die nichts umhaut.

Dank Ihrer Bücher bekam ich endlich die Klarsicht dass ich die Verantwortung
nicht mehr übernehmen kann und will für all die Brutalitäten meiner Eltern.
Ich fühle zur Zeit grossen Hass auf beide und kann nicht mehr auf sie zugehen.
Es tut mir so weh wenn ich sehe was diese beiden Sadisten mit mir gemacht haben,
es tut mir weh für das kleine Mädchen in mir, das niemals eine Chance hatte zu
erfahren was Liebe und Geborgenheit ist. Ich weiss jetzt auch woher ich schon
als kleines Kind diese schlimmen Todesängste hatte oder die Panik die ich bekam
sobald mir jemand etwas auf’s Gesicht legte. Jahrelang tappte ich im dunkeln
und meine Eltern sagten immer ich sei nicht normal und brauche einen Psychiater
weil ich so starke Angstphobien hatte. Dies habe ich nicht mehr weil ich mich
mit dem Tod angefreundet habe, mehr als mit dem Leben wurde mir vor einer Weile
bewusst.

Ich würde undendlich gerne eine Organisation gründen hier in der Schweiz und
all die brutalen, gewalttägigen Eltern wachrütteln. Ihnen bewusst machen wie
sie ihre Kinder von kleinster Kindheit auf zerstören. Sollte es bereits eine
solche Organisation geben, wäre ich dankbar für einen Hinweis von Ihnen.

Mit grossem Respekt vor ihrem Mut grüsse ich Sie.

AM: Sie schreiben, dass Ihre Eltern als Kinder schwer misshandelt wurden und daher „nicht anders konnten“, als dies an ihre Kinder weiter zu geben. Das stimmt aber nicht. Sie haben es doch auch anders gekonnt. Und es gibt viele Menschen, die nicht die erlittenen Grausamkeiten weitergeben, wenn sie nicht mehr leugnen, dass sie gelitten haben. Sie wurden ja schrecklich sadistisch gequält, und nun schützen Sie ihre Eltern, indem Sie deren Verantwortung herunterspielen. Ich kenne keine Organisation, nach der Sie fragen, aber Sie können sie ja gründen. Nur wenn die Eltern ihre Verleugnung aufgeben, sind sie nicht „gezwungen“, das zu tun, was ihnen geschehen ist. Die meisten guten Ratschläge der Erziehungsberater für Eltern bleiben unwirksam, solange sie diesen ganz wichtigen Faktor unerwähnt lassen, weil sie die Eltern der Eltern meinen schonen zu müssen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet