Leserbrief

Leserbrief
Tuesday 25 September 2007

Liebe Alice Miller,

Sie haben mir oft weitergeholfen mit Ihren Antworten auf meine Fragen. Ich fühle mich lebendiger als je zuvor in meinem Leben. Dennoch bin ich immer wieder erschüttert, wenn mich meine Lebendigkeit und Liebe schlagartig verläßt und ich tiefe Wut auf Kinder empfinde. Ich habe äußerst gewalttätige Gedanken, die mich sehr erschrecken, und ich brauche dann einen ganzen Tag, um mich wieder zu beruhigen. Mein Vater war, soviel weiß ich jetzt, abwechselnd sehr fürsorglich und dann wieder brüllte und schlug er los. Bei ihm hat sich Liebe und Haß permanent abgewechselt. Ich vermute, dass meine Zustände darauf zurückzuführen sind. Ich habe das schreckliche Gefühl, die Angst, beinahe selbst die Beherrschung zu verlieren, und auf fremde Kinder loszugehen. Gleichzeitig quält mich dabei ein furchtbares Schuldgefühl. Ich habe aber immer wieder Angst, meinen Vater (der längst und sehr jung verstorben ist) innerlich zu konfrontieren, denn ich habe ihn sehr geliebt. Im Gegensatz zu meiner Mutter war er auch liebevoll, fast überschwenglich darin, zu mir. Ich finde es noch schwieriger, mit meiner Wut umzugehen, wenn andere meinen Vater verteidigen, und sagen, er habe ja nicht gewußt, was er getan hätte. Ich habe dann oft große Lust zu sagen, ok, dann schlag ich dir mal ein paar ins Gesicht, mal schauen, ob du so ein Verhalten dann immer noch ok findest. Das wollen Sie ja auch so dringend zum Ausdruck bringen, nicht wahr, dass eindeutig das Kind geschützt werden muß, weil die Verwirrung sonst nicht aufgehoben werden kann. Diese Verwirrung ist in mir sehr stark. Wissen Sie, ich habe das Gefühl, wenn ich die Wunschvorstellung vom beschützenden Vater aufgebe, dann sterbe ich. Und ich werde mit diesem Konflikt oft alleingelasssen. Ich habe vor kurzem meine Mutter getroffen, die ich 2 Jahre nicht gesehen habe. In dieser Zeit konnte ich reifen und mich selbst finden. Ich habe ihr erzählt, wie bedrohlich ich meinen Vater empfunden habe. Ich habe sie gefragt: was würdest du jetzt tun, wenn er mich angreift? Und sie hat gesagt, er würde heute sicher anders sein. Ich habe wieder gefragt: Was würdest du jetzt tun, Mama. Und sie hat gesagt, sie würde ihm erklären, was er da tut. Und ich habe nochmal gefragt: Was würdest DU tun? Und dann hat sie gesagt, ich würde mich vor dich stellen. Und auf diese Haltung, Frau Miller, habe ich mein ganzes verzweifeltes Kinderleben gewartet!!!!!!
Haben Sie einen Ratschlag aufgrund Ihrer Erfahrung, wie ich mit dieser Wut auf Kinder in mir umgehen kann, die ich von meinem Vater gelernt habe, und die nach Auffassung aller damals dabeigewesen, ja gar nicht schlimm ist? Was denken Sie generell, wie ich die starke Täteridentifikation (der ich aber bisher nicht nachgegeben habe) auflösen kann?
Seien Sie herzlichst gegrüßt, alles Gute, tausend Dank, dass Sie Kinder beschützen!!!!

A. K.

AM: Sie schreiben: Wissen Sie, ich habe das Gefühl, wenn ich die Wunschvorstellung vom beschützenden Vater aufgebe, dann sterbe ich. Damit drücken Sie genau das Gefühl des Kindes aus, die Furcht des Kindes, dass es sterben würde ohne die “Liebe” des Vaters. Sie haben so an diese Liebe geglaubt, dass Sie sie sich einverleibt haben. Doch heute fangen Sie an zu entdecken, dass das keine Liebe war, sondern ein Betrug, an den Sie glauben mussten, um neben Ihrer Mutter nicht zu verhungern. Der ständige Wechsel hat Sie ja total verwirrt, Sie mussten ihn in Kauf nehmen, weil sonst niemand für Sie da war. Heute brauchen Sie weder die Verwirrung noch die Grausamkeit Ihres Vaters zu lieben, Sie sind frei, das zu hassen, was Ihnen hassenswert erscheint. Sie brauchen nur Ihre Wahrheit, um nicht zu sterben, um frei zu sein, um sich wirklich lebendig zu fühlen. Ich wünsche Ihnen den Mut, den Sie brauchen, um die Liebe des Kindes loszulassen und sich erlauben zu sehen, wie sehr Sie am Verhalten Ihres Vaters gelitten haben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet