Das Kind wird gelehrt, sich zu beschuldigen

Das Kind wird gelehrt, sich zu beschuldigen
Monday 01 February 2010

Liebe Frau Miller,

Gerade habe ich auf Ihrer Seite gelesen, dass Sie sagen, dass die Psychoanalyse, das Kind beschuldigt und die Eltern schont. Als ich es das erste Mal las, dachte ich, ich habe es nicht richtig verstanden. Doch als ich es an anderer Stelle noch einmal las, verstand ich und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich bin ganz fassungslos!

Jahrelang war ich bei einem Analytiker in Behandlung, eine Situation ist mir in ganz besonderer Erinnerung geblieben. Er sprach als Beispiel von einer Mutter mit einem Kind, das Kind hätte irgendetwas gemacht, die Mutter schimpfte, das Kind weinte und schrie. Alle würden nur auf die „böse“ Mutter sehen, die das arme, weinende Kind zurechtwies, niemand würde das Kind sehen, das die Mutter zuvor manipuliert hatte oder auch mit seinem Schreien manipulierte.

Ich saß da und fragte mich, was er mir denn damit sagen wollte. Wollte er sagen, dass ich meine Mutter manipuliert hatte, dass ich dazu beigetragen hatte, dass sie so ausrastete und zuschlug und ich selbst schuld daran war?

Dann kam es ganz deutlich in einem ironischen Tonfall und mit ein klein wenig Zorn in der Stimme aus seinem Munde: „Sie sind ja nie an etwas schuld!“

Das saß wie ein Hammerschlag, es erschreckte mich, es machte mir angst und irgendwie war ich entsetzt. Ich fühlte mich bei etwas ganz Schlimmen ertappt. Nicht zuletzt, weil meine Mutter immer sehr Ähnliches von sich gegeben hatte, nämlich: „Die haben ja nie etwas gemacht!“ (Damit meinte sie uns Kinder.)

Sollte ich doch schuld sein, war ich schuldig? Waren wir Kinder wirklich so grässlich? Ich sank in Panik zusammen. Doch ich raffte mich noch einmal auf und versuchte zu klären, ich sei also schuldig, wenn ich mich in meinem kindlichen Spiel dreckig gemacht und damit meine Mutter so verärgert hatte, dass sie uns Kinder schlug und uns mit stundenlangem Stehen in der Ecke bestrafte? Hiermit hatte ich sie manipuliert? Meinte er es so?

Ich weiß nicht mehr so genau, was er geantwortet hatte, aber es war bei mir das eindeutige Gefühl angekommen, ja er meinte, ich sei schuld, ich hätte sie mit meinem Verhalten rasend gemacht.

Es ist durchaus möglich, dass er meinen Ausführungen nicht einmal richtig zugehört hatte, weil er zu sehr damit beschäftigt war, mich von meiner Schuld zu überzeugen.

Ich fühlte mich an die Wand gedrückt, in die Enge getrieben, elend, völlig hilflos, hoffnungslos und verzweifelt. Ich war verraten und verloren, er stand nicht auf meiner Seite und ich war allein, so allein, wie schon immer. Er verteidigte mich nicht, sondern gab mir die Schuld. War das so richtig? Das konnte doch gar nicht sein!!!

Dann wurde ich das erste und einzige Mal während der gesamten langen Therapie wütend. So wütend und hilflos, dass ich nichts mehr zu sagen wusste, es war zwecklos. Ich nahm eine Packung Tempotaschentücher und warf diese in seine Richtung. Ich traf ihn jedoch nicht, mit Absicht.

Hierauf schoss er hoch und brüllte streng: „Raus!!“ Und ich ging ängstlich hinaus.

Was tat ich in der nächsten Stunde? Richtig, ich entschuldigte mich reumütig und schenkte ihm auch noch etwas.

Er meinte, ich müsse meinen Zorn unter Kontrolle bekommen.

Auch das kam mir komisch vor, das erste und einzige Mal war ich zornig und dann sollte ich das unter Kontrolle bekommen? Ich hatte doch noch nicht einmal jemanden verletzt! Ein schwaches, harmloses Werfen von Taschentüchern, mit denen eh nichts passieren konnte (wobei ich mich erinnere, kontrolliert etwas Ungefährliches genommen zu haben), soll so bedrohlich gewesen sein?

Ich sagte jedoch nichts, ich wurde klein und brav und dachte, er hatte recht und meine Mutter hatte auch recht. Ich war ein böses Kind, das andere manipulierte, ich war schuldig. Nie wieder wurde darüber gesprochen.

Zwei oder drei Mal hatte er auch folgende Bemerkung geäußert: „Jetzt weiß ich, womit Sie ihre Mutter zur Weißglut gebracht haben!“

Dieser Satz versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich weiß noch, dass ich irgendwie immer dachte, dass er das nicht so meinen kann, ich würde das falsch verstehen. Vielleicht wollte er aber auch, dass ich eine Teilschuld eingestand.

Ich meine, dass ich einige Male versucht hatte, das irgendwie zu klären, ich weiß aber nicht mehr, was ich formuliert hatte. Ich weiß nur, dass er geantwortet hatte, dass er das so nicht gesagt hätte und ich würde ihm die Worte im Munde herumdrehen. Vielleicht tat ich das, ich weiß es nicht. Vielleicht tat ich das auch aus der Verwirrung heraus.

Irgendetwas konnte nicht stimmen, war mein Gefühl, doch ich kann meinen eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen nicht trauen. Ich sagte nichts mehr, ich fragte nichts mehr. Ich würde eh nur eine noch verwirrendere Antwort erhalten. Denn ich war ja nun obendrein auch noch die Dumme, die offenbar das, was er sagte nicht verstehen und verdrehen würde.

Ich war verwirrt und verunsichert. Hoffnungslos, niemand war da, der half.

Und dennoch nahm ich deutlich wahr, er war wirklich der Überzeugung, ich hätte meine Mutter durch mein manipulierendes Verhalten zur unkontrollierten Raserei gebracht. ICH WAR SCHULDIG!

Ich würde es nur nicht sehen wollen, war wohl seine Theorie.

Diesem Ereignis stand jedoch ein anderes entgegen, das sich circa 8 Jahre zuvor während eines Klinikaufenthaltes zugetragen hatte. Hier erinnere ich, dass ich da gesessen und selbst formuliert hatte, dass ich selbst an allem schuld sei. Auch hier gab es von der Mutter häufig Formulierungen wie: „Die ist selbst schuld, warum ist die auch so blöd!“ (Das sagte sie, nachdem sie zugeschlagen hatte.)

In dieser Situation saß ein Therapeut neben mir, strich mir über den Rücken und wiederholte mehrmals, ich sei nicht schuld. Ich spürte, dass ich das ganz genau verstehen und mir auf keinen Fall die Schuld zuweisen sollte.

Umso mehr verwirrte mich die Denkweise des Analytikers.

Wieder circa 8 Jahre später (nach dem Analytiker) beschrieb meine erste Traumatherapeutin in einem Gutachten, dass ich mich extrem schuldig fühlen würde.

Wie konnte es sein, dass der eine Therapeut nicht einmal sah und spürte, dass ich mich bereits schuldig fühlte und die nächste Therapeutin sogar ein Höchstmaß an Schuldgefühlen in mir wahrnahm? Die Verwirrung war komplett. Was war jetzt richtig? War ich nun schuldig oder nicht? Fühlte ich mich schuldig oder nicht? Was sollte ich fühlen?

Erst jetzt sehe und verstehe ich, was dieser Analytiker gemacht hat. Es stimmt, was Sie sagen, er schonte meine Mutter und beschuldigte mich.

Unbewusst spürte ich wohl, dass das nicht richtig sein kann, deshalb mein Zorn. Aber ich bekam es nicht klar, weil ich meinen Gefühlen nicht glauben kann. Gleichzeitig fühlte ich mich schuldig, ohne es zu merken, deshalb fühlte ich mich irgendwie ertappt. Ich schämte mich für diese Schuld und niemand durfte entdecken, dass ich schuldig war.

Mein Verstand rebellierte dennoch, weil es nicht sein konnte, dass sich ein Kind, das sich beim Spiel schmutzig gemacht hatte, damit schuldig gemacht haben kann. Das würde es heißen, wenn ich eine Schuld eingestehen würde.

Es war die Mutter, die das Kind für dieses kindlich normale Verhalten nicht hätte bestrafen und schon gar nicht hätte schlagen dürfen. (Diese Situationen waren jedes Mal eine absolute Katastrophe.)

Ich kann mir mit meinem Verstand sagen, ich bin nicht das böse Kind, das sich mit Absicht schmutzig gemacht hat, nur um die Mutter zu verärgern und damit zu manipulieren.

Ich bin nicht das böse Kind, das die Mutter manipulierend mit seinen kindlichen Fehlern zornig machen wollte.

Ich bin nicht das böse Kind, das die Mutter im falschen Moment etwas fragte oder sagte und sie hiermit absichtlich verärgern wollte.

Ich bin nicht das böse Kind, das die Mutter absichtlich verärgern wollte, indem es sich nachts im Bett übergab.

Ich bin nicht das böse Kind, das die Mutter mit seinem Aussehen und seinen Blicken zornig machen und manipulieren wollte.

Ich bin nicht das böse Kind, weil ich nur einfach Kind war.

Ich wüsste nicht, womit ich mich hier schuldig gemacht haben sollte! Mein Verstand weiß das.

Doch sobald ich bei meinem Gegenüber nur die Spur einer Schuldzuweisung spüre, fühle ich mich sofort schuldig. Ich bin doch schuld, er hat es entdeckt, obwohl ich es doch so gut verbergen wollte. Es ist tief verwurzelt. Ich lasse mich augenblicklich in die Täterrolle schieben, weil meine Selbstwahrnehmung zu sehr geschwächt ist.

Vielleicht, eines Tages, wissen auch mein Herz und meine Seele, dass ich nicht schuldig bin.

Hier auf Ihrer Seite kann ich es nachlesen.

Irgendwie fühlt es sich ungeheuerlich an, dass dieser Therapeut jahrelang damit beschäftigt war, mich von einer Schuld zu überzeugen, die gar nicht vorhanden ist. Ein Therapeut, dem ich geglaubt hatte und von dem ich glaubte, dass er mir helfen wollte und dass er auf meiner Seite stünde. Er hat mich verraten und allein gelassen. Auch er war gegen mich, wie meine Mutter. Was hat dieser Mann mit mir gemacht? Mir war nie klar, dass die Analyse die Eltern schont und das Kind beschuldigt.

Deshalb die Fassungslosigkeit und ich habe es nicht gemerkt, all die Jahre…

Ich bin nicht schuld, ich bin gar nicht schuld, oder habe ich meine Mutter unbewusst doch mit etwas wütend gemacht, bin ich doch schuldig, vielleicht nur ein bisschen oder doch ganz und gar? Nein, eigentlich kann ich nicht schuld sein!

Vielleicht gibt es ein Buch, das mich noch mehr von meiner Unschuld überzeugen könnte?

Liebe Grüße U.S.

PS.: Gerade war ich auf Ihrer Seite und habe Ihren Eintrag „Die verwirrende Psychoanalyse“ gelesen. Diese Mail hier hatte ich schon vorher fertig. Meine „Analyse“ ist bestes Beispiel, wie wenig mir diese geholfen hat, im Gegenteil, heute sage ich, dass sie mir geschadet hat.

AM: Ihre Zuschrift zeigt, wie tief, verhängnisvoll und langfristig die Schuldzuweisungen der Eltern wirken können. Es werden sich vermutlich viele Besucher in Ihrer Darstellung wiederfinden. Ihr Analytiker hat dies schamlos ausgenutzt und Geld damit verdient. Das von mir besprochene Buch zeigt, was in solchen “Therapien” geschieht. Der Terror des geschlagenen und ständig beschuldigten Kindes wird total ignoriert, und stattdessen werden ihm Deutungen angeboten, die ihm die Schuld für sein Versagen glaubhaft machen. Das sitzt natürlich, weil es auf dem Hintergrund der eigenen Familie einleuchtet. Wie es Ihnen eingeleuchtet hat.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet