Aus der Allgemeinpraxis

Aus der Allgemeinpraxis
Thursday 14 May 2009

Hallo liebe Frau Miller,

meine Englischkenntnisse reichen nicht ganz für mein Schreiben aus, ich denke sie werden eine Übersetzung bekommen oder sie sprechen selbst deutsch.

Ich bin begeistert von dem Buch ” Am Anfang war Erziehung” und ich habe es mehrfach gelesen und es taten sich Welten auf…. Meine Mutter hat wohl eine schwere Neurose, sehrwahrscheinlich durch ihre Kindheit und die Flucht als 15 jährige mit ihren Eltern aus dem Sudetenland. Ihre Eltern waren und sind ihr ein und alles ( sie ist Einzelkind) und meine Schwester, ich ( älteste) und mein Vater konnten machen was immer wir wollten, es gab keine Chance wirklich wahrgenommen zu werden. Meine Mutter hat es dennoch geschafft eine sehr erfolgreiche Ärztin zu werden, war im Stadt,- und Kreisrat und hat das Bundesverdienstkreuz bekommen. Bis zu letzten Stadtratswahl vor 1 Jahr war sie noch aktiv, und ist jetzt mit ihren 79 Jahren immer noch dauernd unterwegs, was sie natürlich nach einem Schlaganfall nicht mehr so gut kann. Bei uns zu Hause gab es ein Leben nach außen und eines in der Familie,die sich unähnlicher nicht sein können. Meine Mutter war bei ihren Patienten sehr beliebt, bei uns tyrannisch, schlug dauernd um sich, es musste alles genauso sein wie ihre Mutter es wollte und haben wir aufbegehrt, waren wir schuld wenn unsere Oma sterben würde vor Kummer über die schrecklichen Enkel oder sie selbst. Kurzfassung.
Als ich 15 war bin ich sitzen geblieben imGymnasium,hatte Bulimie, habe meinen Eltern Unmengen Geld geklaut und auch sonst geklaut, bin dann zum Schulpsychologen geschickt worden, der leider überhaupt nichts verstanden hat und das auch wohl anhand der tollen Familienverhältnisse nicht konnte. ( Das war 1985). Ich habe dann auf einer anderen Schule Abitur gemacht, auch Medizin studiert und habe heute eine 4 Jahre alte Tochter und eine Allgemeinarztpraxis auf dem Land. Ich habe viele Therapien gemacht, bin auch aktuell in einer laufenden Psychotherapie um die Reste noch zu vervollständigen.
Zu meiner Mutter habe ich 80km Abstand, wir sehen uns regelmäßig und da es mir gelingt die Gespräche zu führen und mich nicht mehr gefühlsmäßig gefangen nehmen zu lassen, geht es einigermaßen. Mein Vater hat sehr viel erkannt undmit ihm führe ich auch desöfteren Gespräche.
So, nun aber zumn eigentlichen: Ich stelle in der Praxis fest, dass immer mehr Menschen mit diffusen Symptomen kommen und wenn ich mir Zeit nehme ( mache ich oft im Rahmen des von den Kassen übernommenen Gesundheitscheck) sind riesige psychische Baustellen da. Manche Menschen sind dankbar für diese Überlegnungen ( nehmen auch manchmal Buchtipps sehr gerne an) andere wollen davon überhaupt nichts wissen.
Da ich vorher auch schon mal in der Praxis gearbeitet habe und ein Paar Familien mit Kinder schon kannte, ist es interessant den Entwicklungsverlauf der Kinder zu beobachten. Es gibt viele Familen, die ihre Kinder so schrecklich behandeln ( für viele wahrscheinlich völlig normal, für mich da ich sehr sensibilisiert bin unerträglich), dass die Entwicklung dieser Kinder absehbar ist, was ich auch beobachten konnte innerhalb der 5 Jahre.Manchmal würde ich die Kinder am liebsten aus der Familie nehmen. Gespräche sind aber auch sehrschwer zu führen, da sich viele dann eingeengt und kritisiert fühlen, obwohl ich das auch manchmall versuche.
Bei meiner Tochter gelingt mir die ” Erziehung” bis jetzt ganz gut, aber ich erwische mich oft beim Schreien oder genervt sein, sowie ich es als Kind gewohnt war. Bisher kann ich das aber gut wiederherstellen, wenn es auch sehr anstrengend ist.
ich könnte ein Buch schreiben über meine Erlebnisse als Ärztin, Mutter und Tochter, aber dazu habe ich wohl nicht die Fähigkeit.

Sie haben auf jeden Fall mit ihten Büchern mir mitten ins Herz getroffen und vielen anderen auch. Ich hoffe dass sie Menschheit endlich aufwacht und erkennt, dass es keine bösen Gene gibt und dass kein Kind böse oder blöd auf die Welt kommt und dass jedes Kind endlich eine Chance bekommt. Ich denke der Weg ist angelegt, aber noch nicht breit genug und hat noch viele Hindernisse. Ich bin sogar fast soweit zu sagen dieses Aufwachen ist die einzige Möglichkeit die Gattung Mensch zu retten, da er sich ansonsten selbst vernichten wird ( was wahrscheinlich nicht mehr allzulange dauern wird). Die Hoffnung stirbt zuletzt-

Viele liebe Grüße , CH
( Alter fast 40)

AM: Danke für Ihren Brief. Es wäre gut, wenn Sie über Ihre Erfahrungen in der Praxis ein Buch schreiben würden. Dazu brauchen Sie kein Schreibtalent, die Geschichten sorgen schon für die Spannung. Doch wichtig ist, dass Sie von dem üblichen Zwang frei sind, die Eltern (der Patienten und Ihre eigenen) zu schonen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet