Danke

Danke
Wednesday 01 October 2008

Liebe Alice Miller,

Mir ist es wichtig, Ihnen zu schreiben, denn wegen der derzeitigen
englischsprachigen Leserbriefe vermute ich, dass es eine schwierige
Zeit ist für Sie. Die Vorstellung, dass Sie persönlich attackiert und
diffamiert werden – nach allem, was Sie geleistet haben ! – schmerzt
und empört mich. Gerade deswegen ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen zu
danken. Dafür zu danken, dass ich mein Leben retten konnte, zumindest
dabei bin, es zu tun.
Es war ein langer Weg für mich. Als ich ein kleines Kind war, verhöhnte
mich meine Mutter immer wieder als “ein bißchen dumm”. Sie stiftete
auch meine ältere Schwester dazu an, sich zusammen mit ihr über mich
lustig zu machen. So sangen sie im Auto Lieder wie “M. hat Käsefüße, M.
hat Käsefüße.” Jede Leistung von mir wurde klein geredet, jeder
Ausdruck spontaner Lebensfreude kaputt gemacht. Jeder Fehler, jede
Ungeschicklichkeit zu einem Drama hochgebauscht, eine Enttäuschung für
meine mich angeblich so liebende Mutter. Dass ich in der Schule später
als hochbegabt galt, zählte nicht. Das war ja keine Leistung, sondern
Glück. Dafür sei ich aber faul. Wenn ich jetzt an meine Kindheit denke,
verspüre ich nur Wut, Hass und Verzweiflung. Zum Glück, endlich!! Denn
jahrelang galten mir meine eigene Gefühle gar nichts, die meiner
Mutter, meiner ach so bemitleidenswerten Mutter alles.
Meine Mutter, die so tat als würde sie ohnmächtig, oder würde sterben,
wenn meine Schwester und ich nicht taten, was sie wollte. Meine Mutter,
die mir den Tod meines Vaters – er starb als ich fünfzehn war an einem
Verkehrsunfall – so mitteilte: “Dein Vater ist tot. Fang jetzt bloß
nicht an zu schreien!” Es war frühmorgens und ich lag noch im Bett, sie
stand an der Türschwelle. Mein Vater hat mir gegen diese Mutter auch
nicht geholfen. Er war ein abweisender, zerstörerischer Trinker. Erst
vor kurzem stellte sich heraus, dass er meine Schwester missbraucht
hat. Und meine Schwester, sie ist fünf Jahre älter als ich, mich.

Ich will jetzt nicht mehr darüber schreiben, denn gerade ist mir ist
ein Punkt wichtig: Obwohl (eigentlich: weil) meine Kindheit ein
entsetzlicher, grauenvoller Alptraum war und ich wegen dieser Kindheit
jahrelang schwere Depressionen hatte, ja von sechzehn bis weit über
Dreißig tagsüber von so schlimmer Müdigkeit geplagt wurde, dass ich
stundenlang nur im Bett oder auf dem Sofa liegen konnte. Trotzdem hatte
ich jahrzehntelang nie Mitleid für mich und das Kind, das ich war.
Sondern immer nur für dieses gefühllose, egozentrische, ausbeuterische
Monstrum, das meine Mutter war.
Und ohne Sie und Ihre Bücher und diese Internetseite wäre es mir nie
gelungen, mich auch nur ansatzweise davon zu befreien. Sie haben mir
die Sicherheit gegeben, meinen Gefühlen zu vertrauen. Mich überhaupt zu
trauen, auf meine Gefühle zu achten. Nicht dagegen anzukämpfen, wenn
ich nur Wut und Hass auf meine Eltern spüre. Mich nicht zu zwingen,
eine Liebe zu fühlen, die nicht da ist. Wie könnte sie nach allem auch
da sein! Es ist so klar und logisch. Aber ich hätte es nie geschafft,
diese einfache Wahrheit zu sehen und zu fühlen ohne Sie. Wenn Ihnen
hier Leute schreiben, dass sie sich mit Ihrer Hilfe von den Folgen
einer schrecklichen Kindheit befreien konnten, dann antworten Sie
häufig, dass sich die Schreiber eigentlich selbst befreit hätten. Und
das stimmt natürlich insofern das eine Arbeit ist die einem niemand
abnehmen kann. Aber es stimmt auch, dass es mir und ich bin mir sicher
vielen, sehr sehr vielen wie mir nicht gelungen wäre, ohne Sie: ohne
Ihre Bücher, ohne Ihre Leserbriefseite, ohne Ihr ganzes Werk.

In einem Buch aus den Siebziger Jahren habe ich einen Satz gelesen,
der ungefähr lautete: “Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum,
aus dem wir gerade erst dabei sind zu erwachen.” Ich weiß nicht, ob es
stimmt, dass die Menschheit dabei ist, aus diesem Alptraum zu erwachen,
schön wäre es. Aber eines weiß ich ganz sicher: Wenn jemand etwas dazu
beigetragen hat, dass einzelne aus diesem Alptraum erwachen konnten,
dann Sie. Sie mehr als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Was für
eine unglaubliche, unvergleichliche Leistung das ist! Und das wird
immer bleiben, egal was für Konflikte und menschliche Enttäuschungen
Sie gerade vielleicht quälen mögen.

Ich bin Ihnen so unglaublich dankbar.
Vielen, vielen Dank und alles Gute !! M.

AM: Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihren Brief und bin sehr froh zu hören, dass meine Bücher Ihnen geholfen haben, die Augen zu öffnen für die Grausamkeit und Heuchhelei, mit der Sie in der Kindheit behandelt wurden. Dass Sie trotzdem so viel Klarheit und Empathie entwickeln konnten, ist ein Zeichen, dass Ihr Leben tatsächlich gerettet ist – trotz allem. Das können nur wenige. Die Kampagnen, die ab und zu gegen mich geführt werden und mich persönlich attackieren, haben eigentlich kaum etwas mit meiner Person zu tun, sie sind Ausdruck der oft Jahrzehnte lang zurückgehaltenen Wut auf die eigenen Eltern, die durch meine Schriften ausgelöst wurde.Dabei werden die eigenen Eltern immer noch geschont, wenn man diese gigantische Wut auf mich richten und die Verleugnung damit aufrechterhalten kann. Das kann ich nicht verhindern. Die Alternative wäre zu schweigen, das rasende und oft gemeine Verhalten der Angreifer schweigend zu tolerieren, weil sie einmal als Kinder Opfer waren, aber diese Toleranz halte ich für falsch, denn sie sind keine Kinder mehr. Ich weiss zwar, weshalb sie blinde Hasser geworden sind, aber ich will sie nicht bemitleiden, sie sollen sich ruhig mit ihrem Hass exponieren, offenbar gehören auch solche Reaktionen zu meinen Büchern, weil diese Bücher keine Konzessionen mit der Heuchelei machen. Ich bin froh, dass Sie das erkannt haben, und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer eigenen Entdeckungsreise.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet