Am Anfang war Erziehung
Saturday 19 April 2008
Sehr geehrte Frau Dr. Miller,
zunächst danke ich Ihnen herzlich dafür, daß Sie Ihren Lesern die Möglichkeit geben, an Sie zu schreiben und vielleicht sogar Antwort zu bekommen.
Ich bin 68 Jahre alt, Single, Schriftstellerin, Übersetzerin, Verlagslektorin. Vor vielen Jahren las ich Ihr Buch Das Drama des begabten Kindes und war erschüttert, weil jedes Wort ins Schwarze traf. So hatte ich meine Erziehung auch erlebt, mit einer wohlmeinenden, ignoranten, ihrerseits kindheitsgeschädigten Mutter und einem ebenso beschädigten, unnahbaren Vater. Ihr Buch half mir damals, Klarheit zu gewinnen, und im Lauf der Jahre konnte ich das angestaute Ressentiment, vor allem gegen meine Mutter, abbauen. Heute dominiert mein Mitgefühl und das Bewußtsein, daß sie nicht anders konnten, so wie Sie es in Ihren Büchern darstellen. So ist es wirklich; nur, meiner Lebensnot konnte ich damit nicht abhelfen.
Vor anderthalb Jahren las ich Ihr Buch Evas Erwachen. Es griff mich sehr an. Wieder erkannte ich mich selbst darin. Ich bekam plötzlich eine hartnäckige Verstopfung, wie ich sie als junges Mädchen oft gehabt hatte. Sie hielt sich viele Wochen lang. Die Medizin konnte (natürlich) nicht helfen. Schließlich half ich mir selbst mit Reiki, Bachblüten und vor allem Meditation. Entscheidend war, daß ich Reiki mit einer Frau machte, die Verständnis für psychosomatische Beschwerden dieser Art hatte. Ich sprach zu ihr über Ihr Buch und die Wirkung, die es auf mich gehabt hatte, nicht aber über die Traumen meiner Kindheit. Das wäre im Rahmen dieser Behandlung nicht möglich gewesen.
Vor kurzem las ich ein weiteres Buch von Ihnen, Am Anfang war Erziehung. Das schlug wieder ein, und Erinnerungen kamen hoch: z.B. wie meine Mutter immer mit Stolz gesagt hatte, daß ich mit 10 Monaten “sauber” war und überhaupt ein problemloses, “braves”, d.h.perfekt angepaßtes Kleinkind war. Und noch viel mehr. Es dürften da noch Dinge im Dunkel liegen, die ich spüre, an die ich aber nicht herankomme.
Ich habe vieles in die Wiege gelegt bekommen: einen gesunden Körper, Begabungen, Schönheit, Bildungschancen. Und meine Mutter war in ihrer Art durchaus liebevoll. Ich habe Berufe meiner Wahl erfolgreich ausgeübt und konnte eigentlich immer tun, was ich wollte. Aber innerlich war ich verhindert, mein Leben voll zu leben. Obwohl ich immer einen Partner wollte, habe ich es trotz vieler Angebote nicht gewagt, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Innerlich fühle ich mich seit Jahren wie in einem Gefängnis. Zum eigentlichen kreativen Schreiben zu kommen, was ich so sehr wollte, gelingt mir nicht. Meine Ängste, Schuldgefühle und Selbstzweifel hindern mich daran. Wenn ich schreibe, dann nur mit größten Qualen (obwohl ich es in Sternstunden auch anders erlebt habe).
Meine Lebenszeit läuft davon. Ich brauche Hilfe, wenn die Not nicht noch größer werden soll. Aber wie? Den Angaben im Internet habe ich entnommen, daß Sie selbst seit langem nicht mehr therapeutisch tätig sind und auch keine Therapeuten empfehlen. Ich denke, einige Gespräche mit einem Therapeuten/Therapeutin, wie Sie es sind, könnten mir helfen. Und wenn es nur ein Gespräch wäre, das ich mit Ihnen führen dürfte.
Mit der klassischen Psychoanalyse will ich es nicht versuchen, wüßte auch niemanden Vertrauenswürdigen, an den/die ich mich wenden könnte. Vor Jahren habe ich etwa ein Jahr lang eine intensive Jung’sche Analyse gemacht bei einer sympathischen Frau, mit viel Traumdeutung, die durchaus erhellend war, aber mein Leben hat sich dadurch nicht verändert.
Sehr verehrte Frau Dr. Miller, ich wollte Ihnen Rückmeldung geben, wie sehr Ihre Bücher auch in meiner Erfahrung die Realität treffen, und mich Ihnen gleichzeitig anvertrauen. Ihre Bücher und Ihr eigener Lebensweg geben wir das Gefühl, daß ich es dürfte.
Meine Frage im Zusammenhang mit Ihren Büchern lautet: Wie kann ein Mensch in vorgerückten Jahren, der die Ursachen seiner Lebensnot mit Hilfe Ihrer Bücher ziemlich klar durchschaut, sich aus dieser Not befreien? Wie kann ich es tun? Die Lektüre Ihrer Bücher allein vermag es nicht.
Haben Sie Dank für Ihre Aufklärungsarbeit.
Mit Verehrung und einem herzlichen Gruß, S. S.
AM: Ihr Brief hat mich sehr nachdenklich gemacht, es gibt vieles, das ich Ihnen dazu schreiben wollte. Aber all das befindet sich eigentlich in meinen letzten beiden Büchern: „Die Revolte des Körpers“ und „Dein gerettetes Leben“. So würde ich Ihnen raten, diese Bücher zu lesen und mir DANN noch zu schreiben, wenn Fragen übrig bleiben. Es ist möglich, dass diese Lektüre Ihnen hilft, zu Ihren Gefühlen zu kommen, was Sie sich ja wünschen und was in zunehmendem Alter ein Geschenk sein kann.